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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille
Autoren: Doris Gercke
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er ihr etwas vorjammern könnte, und wenn sie nicht nach Hause käme, sollte sie ihn nachts draußen treffen oder ihm wenigstens etwas Geld geben.
    Als man ihr im Hotel ein Zimmer anbot, hatte sie es sofort genommen. Die Schwierigkeiten, ihrem Vater noch länger aus dem Weg zu gehen, waren so groß geworden, dass sie auch einverstanden gewesen wäre, wenn man ihr zum Übernachten einen Verschlag unter einer Treppe angeboten hätte. Das winzige Zimmer, dessen Tür sich abschließen ließ und das nicht mehr enthielt alsein Bett, einen Kleiderständer und ein Waschbecken, erschien ihr geradezu großartig. Nachts vor die Tür zu gehen, hatte sie sich abgewöhnt.
    Nachdem der Mann, der ihr Gast gewesen war und dessen Foto sie in der Zeitung entdeckt hatte, gegangen war, trug sie das Kaffeegeschirr in die Küche. Die Küche war leer, denn die Mittagspause für den Koch und seine Gehilfen würde erst in einer Stunde beendet sein. Es war ihr erlaubt, in dieser Zeit in ihr Zimmer zu gehen, solange sie darauf achtete, eintreffende Gäste nach ihren Wünschen zu fragen. Wenn sie ihre Zimmertür einen Spalt offen ließ, konnte sie den bepflanzten Innenhof, die überdachten Gänge drum herum und einen Teil der Bar beobachten. So wäre sie jederzeit zur Stelle, wenn sie gebraucht würde.
    Im Zimmer band sie ihre Schürze ab, bevor sie sich auf das Bett legte. Mit offenen Augen hörte sie auf mögliche Geräusche und dachte an den Mann mit den hellen Haaren und der dunklen Haut. Er hatte ihr gefallen und sie überlegte, ob sie ihn dazu bewegen könnte, sie mitzunehmen. Die Frauen, die im Speisesaal bedienten, waren voll von Geschichten über reiche Männer, die sich in junge Mädchen verliebt und sie mitgenommen hatten. Allerdings waren diese Männer immer alt gewesen. Und eigentlich hatte sie die Geschichten auch gar nicht geglaubt. Sie waren ihr immer wie Träume vorgekommen; Träume, die sie allerdings sehr gut verstand. Sie dachte an das Foto in der Zeitung und an den Text, der darunterstand. Und je länger sie darüber nachdachte, desto richtiger schien es ihr, sich mit dem Mann einzulassen, gleichgültig, was in der Zeitung von ihm behauptet wurde. Reich war er, und er war sicher mutig; mutig genug, um sie hier wegzuholen und ihrem Vater die Stirn zu bieten, wenn der es wagen sollte, sich ihnen in den Weg zu stellen.
    Vielleicht sollte sie noch einmal aufstehen, um die Zeitung zu holen? Sie blieb liegen, lauschend, wach und angespannt.
    Im Hotel war es ungewöhnlich ruhig. Wahrscheinlich waren die wenigen Gäste hinunter in die Stadt gegangen, um sich die Osterprozession anzusehen.
    Nach einer halben Stunde stand sie auf, ordnete ihr Haar in einem kleinen Spiegel, den sie aus einem Koffer unter ihrem Bett hervorzog, und verließ ihr Zimmer. Die Frauen, die abends im Speisesaal Dienst hatten, waren schon damit beschäftigt, frische Blumen auf den Tischen anzuordnen. Auch aus der Küche waren bereits Geräusche zu hören. Sie legte die dunkelroten Stoffservietten so ordentlich auf die weißen Tischtücher, wie man es ihr gezeigt hatte. Als sie an dem Platz angelangt war, an dem ihr Gast gesessen hatte – sie nannte den blonden Mann bei sich ihren Gast, ohne darüber erstaunt zu sein –, war sie fest entschlossen, sobald wie möglich ihr Glück bei ihm zu versuchen.
    Der Speisesaal blieb leer bis auf ein uraltes Ehepaar, das von einer ihrer Kolleginnen bedient wurde. Wahrscheinlich kamen die anderen Gäste erst, wenn unten in der Stadt die Prozession vorbei war. Maria-Carmen verließ den Raum, um vor die Tür zu gehen und einen Blick hinunter in die Stadt zu tun. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, draußen erwartet zu werden; nicht von ihrem Vater, von irgendjemandem, der es gut mit ihr meinte. Als sie an der Bar vorüberkam, blieb sie einen Augenblick stehen. Diese Bar war ihr von Anfang an als der schönste Raum im Hotel erschienen, trotz der prächtigen Eingangshalle, des schattigen Innenhofs, der Wandelgänge mit Decken aus dunklem Holz, schweren Sitzmöbeln und alten Bildern und trotz des Speisesaals mit den dicken dunkelroten Vorhängen und der schwarzen Decke. Der Fußboden und die Wände der Bar waren mit blaugrünen Mosaiksteinen gefliest. Das Licht über dem Tresen reflektierte winzige goldene Steinchen, die in das Mosaik eingelassen waren.
    Hinter der Bar lief der Fernseher. Der Barkeeper war damit beschäftigt, Gläser zu polieren. Er wandte ihr den Rücken zu.Auf dem Bildschirm erschien das Bild ihres Gastes.
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