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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck
Autoren: Lena Avanzini
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er will. Ich bin sein Spielzeug, das er benutzt und nach Gebrauch weglegt.
    Er meint es nur gut, habe ich gedacht. Bisher. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.
    Ich schäme mich so. Mich ekelt vor ihm, vor allem aber vor mir selbst. Sogar vor der Musik ekelt mich. Zum Üben muss ich mich zwingen.
    Wie soll es weitergehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Brief abschicken kann. Wahrscheinlich nicht, weil ich mich zu sehr schäme. Und irgendwann werde ich ihn zerreißen, wie die anderen zuvor.
    Ich möchte nicht, dass du mich verachtest. Außerdem hast du deine eigenen Sorgen.
    Ab und zu träume ich davon, dass sich irgendwann alle meine Probleme einfach in Luft auflösen. Dass ich nur noch ein bisschen durchhalten muss. Nur noch ein paar Tage, ein paar Wochen …
     
    Der Brief zitterte in Veras Händen.
    Irgendein verdammtes Schwein hatte Isa missbraucht. Jemand, der ihr Schuldgefühle einimpfte, damit sie sich niemandem anvertraute. Deshalb hatte sie nichts mehr gegessen. Wenn schon ihre Probleme nicht verschwanden, dann wenigstens sie selbst. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.
    »Warum hast du mir nicht vertraut, Isa?« Vera schlug ihre Fäuste gegen die Wand.
    Und dann kamen die Tränen, die sich so lange geweigert hatten, geweint zu werden.
     
    Als es an der Tür klopfte, schreckte sie hoch. Sie musste auf Isas Bett eingeschlafen sein.
    Mutter steckte ihren Kopf herein. Zwei senkrechte Fältchen ließen ihren Mund verbittert aussehen.
    »Was ist denn hier los?«, fragte sie und musterte das Chaos am Fußboden. »Wieso durchwühlst du Isas Sachen?«
    »Ich habe nach einem Hinweis gesucht, warum sie gehungert hat.«
    Mutter wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Haut darunter sah mürbe aus wie Recyclingpapier. »Sie wollte immer sein wie du und dein Vater. Schlank und langbeinig. Wie oft hat sie gejammert, dass sie die Neigung zum Dickwerden von mir geerbt hat.« Schwer ließ sie sich in den Bürosessel fallen. »Hungern ist wie eine Sucht. Irgendwann konnte Isabel nicht mehr damit aufhören.«
    »In Wahrheit steckt etwas anderes dahinter.« Vera senkte die Stimme. »Isa wurde sexuell missbraucht. Deshalb hat sie gehungert.«
    »Was? Wie kommst du denn darauf?«
    »Ich habe einen Brief von ihr gefunden, den sie nie abgeschickt hat. Hier, lies selbst.« Sie hielt das Blatt Papier ihrer Mutter hin.
    Die warf einen flüchtigen Blick auf das Schreiben und gab es kopfschüttelnd zurück. »Ach, Vera. Das Geschreibsel eines pubertierenden Teenagers. Erinnere dich, was du dir in dem Alter alles zurechtphantasiert hast.«
    »Heißt das, du hältst Isa für eine Lügnerin? Obwohl du den Brief nicht mal gelesen hast?«
    »Sie ist tot, und irgendwelche Anschuldigungen bringen sie nicht zurück.« Als Mutter sich mühsam aus dem Sessel hievte und sich bückte, um Isas verstreute Kleidungsstücke einzusammeln, wirkte sie müde und zerbrechlich.
    »Willst du wirklich nicht wissen, wer ihr das angetan hat?«
    »Sie selbst hat sich das angetan. Und wir, weil wir nicht für sie da waren.« Sie musterte Vera mit diesem anklagenden Blick, den sie so einwandfrei beherrschte. Dann fuhr sie fort, Isas Kleidungsstücke zusammenzulegen und aufeinanderzustapeln. »Lass uns zur Ruhe kommen. Es ist schwer genug, mit ihrem Tod fertigzuwerden, auch ohne irgendwelche Horrorgeschichten.«
    »Typisch«, zischte Vera. »Du verschließt die Augen vor der Wahrheit, wenn sie dir nicht passt. Dein Mustertöchterchen hat versagt. Anstelle einer Starpianistin ist eine Magersüchtige aus ihr geworden. Was werden die Leute sagen?« Vera hob einen BH vom Boden auf und warf ihn aufs Bett. »Das wirft ein schiefes Licht auf unser Familienidyll. Deshalb kann es dir nicht schnell genug gehen, dass Gras darüber wächst«, ätzte sie. »Aber ohne mich! Ich werde der Sache nachgehen. Ich fahre nach Innsbruck und finde Isas Peiniger!«
    Mutter schaute auf. Die Gebrechlichkeit war wie weggewischt. »Und dein Studium? Du hast doch bestimmt bald Prüfungen? Willst du das alles aufgeben?«
    »Ich werde das Schwein vor Gericht bringen, das bin ich Isa schuldig. Danach kann ich immer noch weiterstudieren.«
    »Hättest du dich mehr um sie gekümmert, als sie noch lebte. Ich wette, du bist nicht halb so oft in Innsbruck gewesen, wie wir es vereinbart hatten.« Mutter war wieder ganz die Alte. Vorwürfe und Anschuldigungen. Rotfleckige Wangen. »Jetzt hat niemand was davon, wenn du hinfährst, nur um dein Gewissen zu
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