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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck
Autoren: Lena Avanzini
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wurde ein Riesenerfolg, Kritiker sprachen vom »Triumphzug eines Wunderkinds«. Danach weigerte sich die Klavierlehrerin, Isa weiter zu unterrichten. Sie könne ihr nichts mehr beibringen. Ein derartiges Talent müsse unbedingt bei einem großen Klavierpädagogen studieren, am besten beim allergrößten, Professor Sergej Sofronsky, der in Innsbruck die Elite der Nachwuchspianisten ausbilde. Isa platzte fast vor Begeisterung, obwohl es bedeutete, dass sie die Schule wechseln und Familie und Freunde in Hamburg zurücklassen musste. Nur Vater hatte Bedenken geäußert.
    »Bestimmt gibt es in Hamburg auch einen guten Lehrer für Isabel. Sie ist doch noch ein Kind. Wie kann sie ganz allein in dieser fremden Stadt wohnen, neunhundert Kilometer von uns entfernt? Sie wird Heimweh haben und verloren sein und …«
    Vera wurde von Horntönen aus ihren Gedanken gerissen. Ein Freund ihrer Eltern hatte sich vor das offene Grab gestellt und blies eine Choralmelodie, die ursprünglich traurig sein sollte. Da der Hornist jeden Ton haarscharf zu tief ansetzte, klang es wie eine Parodie. Vera musste sich das Lachen verbeißen. Als Vaters Blick den ihren kreuzte, nur für einen kurzen Moment, ehe er wieder ins Leere glitt, fühlte sie sich schuldig.
    Sie hätte auf ihn hören sollen, damals. Aber sie hatte seine Einwände beiseitegewischt und sich in den Kopf gesetzt, Isa bei der Verwirklichung ihres Traumes zu helfen.
    »Ich studiere auch in Innsbruck, dann ist Isa nicht allein«, schlug sie vor. Und Mutter, die Dritte im Bunde, argumentierte mit der großen Chance, die Isa nicht entgehen durfte. Natürlich gelang es ihnen spielend, Vater zu überstimmen. Allerdings zerschlug sich Veras Plan. Sie verpatzte den Eignungstest, der Voraussetzung war, um in Innsbruck zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Ein Schutz der Österreicher vor dem Ansturm der Deutschen. Dafür erlaubte ihr der ausgezeichnete Notendurchschnitt beim Abitur, sich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu immatrikulieren. Vera versprach, an den Wochenenden für Isa da zu sein. Doch die kleine Schwester hatte sich rasch eingelebt, und Vera war selten nach Innsbruck gefahren. Viel zu selten.
    Die Wolkendecke riss auf, ein verirrter Sonnenstrahl durchbrach das geballte Grau und ließ das Waldhorn aufleuchten. Der Bläser, als wäre er darüber erschrocken, verfehlte den Schlusston der Choralmelodie, der als jämmerlicher Gickser in der Luft verzitterte.
     
    Nach dem Begräbnis hatten die Eltern sich hingelegt. Auf Zehenspitzen schlich Vera in Isas Zimmer, um ihr Tagebuch zu suchen. Sie hatte es ihrer Schwester zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, ein schmales Büchlein, in smaragdgrünes Wildleder gebunden. Bestimmt hatte Isa ihre Nöte und Sorgen darin festgehalten. Vielleicht auch den wahren Grund für ihre Magersucht?
    Sie öffnete die beiden Koffer, die sie aus Innsbruck mitgebracht hatte, kippte Isas Sachen auf den Fußboden und durchwühlte sie.
    Nichts. Auch im Rucksack, den Isa als Schultasche benutzt hatte, war kein Tagebuch zu finden. Hatte Vera es im Heim liegen lassen?
    Ich muss nochmals mit Bernie sprechen. Und mit Sarah. Vielleicht weiß eine von ihnen, wo das Tagebuch geblieben ist.
    Als Vera das Chaos, das sie veranstaltet hatte, wieder aufräumen wollte, fiel ihr ein Buch aus der Hand. »Momo« von Michael Ende. Ein Blatt Papier flatterte heraus.
    Vera erkannte Isas krakelige Schrift. Kleine, wild hingeworfene Buchstaben, manche wieder durchgestrichen, manche verschwommen, als hätte die Schreiberin geweint.
    Innsbruck, 17. Mai 2010
    Liebe Vera!
    Es war ein angefangener Brief, keine drei Wochen alt.
    Veras Herz klopfte schneller. Sie setzte sich aufs Bett und las.
     
    Gestern hast du angerufen und gefragt, wie es mir geht.
    Und wieder einmal habe ich dich belogen.
    Es geht mir beschissen. Nichts ist im grünen Bereich.
    Am liebsten würde ich alles hinwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Alles kaputt machen.
    Dabei bin ich selbst schuld an der Situation.
    Warum kann ich nicht Nein sagen? Nur das eine Wort: Nein! Was ist so schwer daran?
    Er sieht mich an, und das Nein bleibt mir im Hals stecken. Ich sage nichts, lasse alles mit mir machen, biete keinen Widerstand. Seinen Händen nicht. Seiner Zunge nicht. Und seit Kurzem auch …
     
    Der Rest des Satzes war durchgestrichen und so übermalt, dass Vera ihn nicht entziffern konnte.
     
    Ich fühle mich wie eine Marionette. Er hat die Fäden in der Hand und macht mit mir, was
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