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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck
Autoren: Lena Avanzini
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den Rand der Bank und presste ihre Fingernägel ins Holz. Sie musste mit Isas Freundinnen sprechen. Vor allem mit Bernie, ihrer Mitbewohnerin im Schülerheim. Vielleicht wusste sie, warum Isa gehungert hatte.
    Irgendetwas steckt dahinter, und ich finde es heraus.
    Für einen Moment schloss Vera die Lider, sog den Duft nach frisch gemähtem Gras und Rinde ein. Und das schwere Parfum eines blühenden Strauches, den sie nicht kannte. Als sie die Augen wieder aufschlug, jagten dunkle Schemen im Zickzack zwischen den Baumkronen hindurch. Fledermäuse.
    Erst jetzt fiel ihr auf, dass allmählich die Nacht hereinbrach und sie sich noch nicht um einen Schlafplatz gekümmert hatte. Sie rief Jochen an. Er nannte ihr die Adresse seiner Freunde, die im Stadtteil St. Nikolaus eine Altbauwohnung besaßen, und beschrieb ihr den Weg dorthin.
    Als Vera aufstand, wurde ihr schwindlig. Sie hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Knurrend forderte ihr Magen sein Recht. Auf tote Schwestern nahm er keine Rücksicht.
    Am Ausgang des Hofgartens, hinter dem Glashaus, entdeckte sie einen Würstelstand. Sie kaufte sich ein Paar Wiener, die hier Frankfurter hießen. Nach dem ersten Bissen wurde ihr schlecht, weil sie Isas wächsernes Gesicht nicht aus dem Kopf bekam. Sie warf den Pappteller mit den Resten in den Müll. Im Weggehen sah sie, wie sich ein Obdachloser über den Abfalleimer beugte, das angebissene Würstel herausfischte und es sich in den Mund schob.
    * * *
     
    Als Vera am nächsten Morgen in der Pradler Straße aus dem Bus stieg, war es kurz nach sieben. Die Nacht hatte sie auf dem Sofa von Jochens Freunden verbracht, geschlafen hatte sie kaum.
    Zum Eduard-Wallnöfer-Heim waren es nur ein paar Schritte. Stallgeruch zog in ihre Nase.
    Schon erstaunlich, dass es in einem Viertel, das sich mitten in der Stadt befindet, gleich zwei Bauernhöfe gibt. Innsbruck ist eben ein Kuhdorf .
    Gerade diese Nähe zur Natur hatte Isa gemocht. Fast zwei Jahre hatte sie hier gewohnt und sich wohlgefühlt – soviel Vera wusste. Zumindest beschwerte sie sich nie, weder über die anderen Heimbewohner noch über die Erzieher, die die Studierzeiten überwachten. Nur auf das Klavier im Musikraum, einen verstimmten Klimperkasten, bei dem die halben Tasten stecken blieben, hatte sie geschimpft und war deshalb zum Üben in die Musikakademie ausgewichen.
    Die goldene Aureole des heiligen Franziskus, der die Fassade des Heims zierte, um dort auf ewig den Fischen zu predigen, glänzte in der Morgensonne.
    Als Vera eintrat, schlug ihr Kaffeegeruch, vermischt mit Schülermief, entgegen. Eine Traube von Halbwüchsigen drängte lärmend aus dem Speisesaal.
    Der Heimleiter, ein schnauzbärtiger Mann um die fünfzig, wusste bereits von Isas Tod. Bestimmt hatte Mutter ihn verständigt.
    »Mein Beileid«, murmelte er und wischte sich mit dem Handrücken etwas Eigelb vom Bart. »Jessas Maria, das arme Madl.«
    Dass Isa abgenommen hatte, war ihm nicht entgangen. An Magersucht hatte auch er nicht gedacht. »Wie kommt’s nur, dass die jungen Dirndln so auf eine schlanke Figur versessen sind? Schuld sind die Models, diese blutleeren, klapprigen Dinger.«
    Isa hat sich nie für Models interessiert, immer nur für Musik, dachte Vera, behielt es aber für sich. Stattdessen bat sie den Heimleiter, ihr Isas Zimmer zu zeigen.
     
    Bernadette saß am Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte in ein Buch.
    »Hallo, Bernie.« Vera hatte Isas Mitbewohnerin vor einem Jahr kennengelernt. Sie war seither kaum gewachsen, nur ein bisschen in die Breite. Die pausbäckigen Wangen wirkten bleich.
    »Vera …«, stammelte sie, »ist es wahr?«
    »Ja. Gestern ist sie gestorben.«
    Bernie schniefte.
    Veras Blick fiel auf das Bett ihrer Schwester. Auf dem Kissen thronte Fritzi, Isas Lieblingsplüschtier, ein flauschiger Esel mit langen Schlackerbeinen.
    »Wusstest du, dass sie magersüchtig war?«, fragte Vera nach einer Weile.
    »Magersüchtig?« Das Mädchen nahm den Haarreif ab und schüttelte die dunkle Mähne. »Sie hat in letzter Zeit total wenig gegessen, das schon. Ich hab versucht, es ihr auszureden, aber sie wollte nichts davon wissen.«
    »Weißt du, warum sie gehungert hat?«
    Bernie sah Vera mit großen Augen an. »Na, weil sie nicht mehr moppelig aussehen wollte.« Sie sah an sich herunter. »Sie wollte keine fette Kuh werden wie ich«, murmelte sie. »Ich hab sie bewundert, weil sie es geschafft hat.«
    »Aber sie sah doch schon lange nicht mehr moppelig aus.
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