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Tod in der Walpurgisnacht

Tod in der Walpurgisnacht

Titel: Tod in der Walpurgisnacht
Autoren: K Wahlberg
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jeden Fall hatte sie selbst versucht, nach vorn zu schauen. Ihr Leben als Erwachsene konnte sie beeinflussen und so gut wie möglich gestalten. Es zu ihrem Leben machen. Zumindest bildete sie sich das ein. Aber es gab so viele Lücken und seltsame Dinge. Patienten wollen eine Erklärung, am liebsten eine Diagnose. Sie wollte auch eine Erklärung. Die Leere in ihr hallte wider, und die Angst kroch in ihr hoch, wenn sie an früher dachte. Aber es gab auch Sanftes, warme Umarmungen und viel Lachen.
    Waren ihr Weltbild und das von Sam eher gleich, oder unterschieden sie sich? Vielleicht konnte er das Bild vervollständigen. Zwar war er bereits ausgezogen, als die Mutter starb, aber da gab es noch so vieles, was davor geschehen war und woran sie sich nur dunkel erinnerte. Vielleicht konnte er mit plausiblen Erklärungen aufwarten.
    Ihr Eifer wuchs, plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können, wenn sie nicht bald erfuhr, wie das mit Papa, Sam und Mama alles zusammenhing. Ihre Schultern verspannten sich bei dem seelischen Balanceakt und weil sie versuchte, sich auf der Straße zu halten.
    Völlig ohne Sinn schob sich plötzlich der Gedanke an Fredric Lido zwischen all ihre Überlegungen über das Leben. Als ob sie ihr Gewissen noch mehr beschweren wollte!
    Wenn das eine echte und nahe Beziehung war, dann sollte sie sich ihm natürlich anvertrauen. Sie sollte Fredric anrufen oder ihm zumindest eine Mail schicken, denn die Geschichte, dass sie die Krankenakte von ihrer Mutter gefunden hatte, war natürlich nichts, was man mit einer SMS abtat. Aber sie hatte keine Lust mit ihm zu reden. War an dieser Beziehung nicht irgendetwas völlig falsch? Das wollte ihr schlechtes Gewissen ihr natürlich sagen. Tu etwas! Reiß dich zusammen und trenne dich. Einfach nichts tun geht nicht.
    Seit sie in Oskarshamn war, hatte sie ihn erst einmal angerufen, was schon viel besagte. Er, der so schlau war, wie er immer betonte, sollte das dann doch selbst begreifen, fand sie. Superschlau war er, das Ass des Studienjahrgangs.
    Sie konnte nicht gut Schluss machen, und noch weniger konnte sie akzeptieren, wenn jemand mit ihr Schluss machte. Wahrscheinlich lag da das Problem. Sie versuchte, sich ihn ins Gedächtnis zu rufen. Das ging nur langsam, aber es ging. Lockige Haare, die voll und glänzend waren und doch viel weicher, als man meinen würde. Sie fuhr in Gedanken mit den Fingern durch diese Haare, wie sie es oft getan hatte. Und dann hatte er immer beide Arme um sie gelegt und sie an sich gezogen.
    Aber diesmal tat er es nicht. Er tat es nicht, weil sie es nicht einmal in ihren Gedanken wollte. Oder vielleicht weil sie nicht damit rechnete, dass er so folgsam war. Zwar war er schlau, aber nicht sonderlich einfühlsam. Er würde sie nicht wegschieben, sondern einfach nur mit hängenden Armen dastehen, den Kopf voller wichtiger Gedanken zu neuen Experimenten, die er im BMC, dem Biomedizinischen Centrum an der Sölvegatan in Lund, direkt neben dem Krankenhaus, durchführen würde. Sie sah ihn schon in dem weißen Laborkittel mit der Pipette in der Hand an einem Tischabzug.
    Es regte sich rein gar nichts in ihr. Wenn sie versuchte, das Gefühl zu beschwören, wenn sie miteinander schliefen, blieben ihre Überlegungen idiotischerweise daran hängen, wo es am besten war. Nicht die Stellungen oder die Berührungen, sondern ob sie in ihrer Wohnung in Lund oder in seinem schmalen Bett am Tornavägen hemmungsloser fickten. Weder im Kopf noch sonst wo wollten sich irgendwelche Gefühle einstellen. Alles blieb leer.
    Der Fahrradweg war zu Ende, und die Straße ins Zentrum hinein war so glitschig, dass sie abstieg und schob. Der Bürgersteig war eigentlich gestreut, aber es fühlte sich nicht gut an, dort mit dem Rad zu fahren. Ihre Fingerspitzen waren zu Eiszapfen geworden, die leicht abbrechen konnten, und die Füße in den dünnen Stiefeln waren taubgefroren. Trotzdem ging sie schnell, von Ungeduld getrieben.
    Ihre Gedanken kehrten wieder zu Sam zurück. Die ganze Zeit sehnte sie sich danach, dass sie einander wiederfinden würden.
    Die Fingerhandschuhe genügten nicht, sie sollte sich Fäustlinge und ein Paar dickere Stiefel anschaffen. Diese waren nicht einmal bequem, sondern flach und dünn. Aber schick. Das war ja manchmal genauso wichtig.
    Sie hatte schon fast vergessen, dass es hier, dreihundert Kilometer weiter nördlich, mehr schneite als in Lund. In Skåne hingegen wehte ein rauer Wind. Sie hatte noch nie die Ski mit nach
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