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Tod in den Wolken

Tod in den Wolken

Titel: Tod in den Wolken
Autoren: Agatha Christie
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sich vernehmen. Die Schwester seiner Frau litt an Anfällen, und es dünkte ihn, dass der Ausdruck Anfall allem gerecht würde.
    Dr. Bryant beabsichtigte nicht, sich irgendwie festzulegen, sondern wiegte nachdenklich den Kopf. Da ertönte neben ihm eine Stimme – die Stimme des Vermummten mit dem Schnurrbart.
    «An ihrem Nacken befindet sich ein Mal», sagte er, und es klang fast entschuldigend, als erkenne der Sprecher ohne weiteres die fachliche Überlegenheit des anderen an.
    «Richtig», bestätigte Dr. Bryant.
    Der Kopf der Toten fiel etwas seitwärts, und ein winziges Pünktchen wurde sichtbar.
    Die beiden Duponts hatten eifrig gelauscht. «Die Dame ist tot? Und sie hat ein Zeichen am Hals?» Es war Jean Dupont, der die Frage stellte. «Darf ich eine Vermutung äußern? Vorhin flog eine Wespe hier rum, die ich tötete. Hier liegt sie noch auf meiner Untertasse. Besteht nicht die Möglichkeit, dass die arme Dame an einem Wespenstich starb? Soviel ich weiß, hat es dergleichen schon gegeben.»
    «Gewiss besteht die Möglichkeit», gab Bryant zu. «Ich kenne solche Fälle. Besonders wenn Herzschwäche vorhanden ist…»
    «Kann ich irgendetwas tun, Sir?», erkundigte Mitchell sich dienstbeflissen. «Wir werden gleich in Croydon landen.»
    «Da gibt’s nichts zu tun, mein Lieber.» Dr. Bryant trat ein wenig zurück. «Natürlich darf die Leiche nicht entfernt werden.»
    «Ich verstehe, Sir.»
    Der Arzt wollte an seinen Platz zurückgehen und sah etwas erstaunt auf den kleinen Schnauzbärtigen, der nicht vom Fleck wich. Und jetzt ergriff dieser abermals das Wort.
    «Monsieur le docteur, Sie haben etwas übersehen.»
    Mit der Spitze seines eleganten Lackschuhs deutete er auf das, was er meinte: Dr. Bryant und der Steward sahen ein winziges gelbschwarzes Ding auf dem Boden schimmern, das halb vom Saum des schwarzen Kleides verborgen wurde. «Eine zweite Wespe?», stieß der Doktor überrascht hervor.
    Hercule Poirot kniete nieder, nahm eine kleine Pinzette aus der Tasche und benutzte sie sehr geschickt, sodass er gleich darauf mit seinem Fund wieder aufrecht stand.
    «Ja, es gleicht einer Wespe», meinte er. «Aber es ist keine.»
    Er drehte und wendete das Ding, damit beide, der Steward und der Arzt, das kleine Flöckchen gerauter Seide, orangefarben und schwarz, das an einem langen, merkwürdigen Dorn mit fleckiger Spitze befestigt war, genau betrachten konnten.
    «Gott steh mir bei!», rief plötzlich Mr Clancy, den die Neugier von seinem Platz getrieben hatte und der nun den Kopf vorwitzig über Mitchells Schulter schob. «Das ist ja das Seltsamste, was mir in meinem Leben je begegnet ist! Wahrhaftig, das hätte ich mir nicht träumen lassen…!»
    «Könnten Sie sich nicht etwas deutlicher ausdrücken, Sir!», sagte der Steward ungeduldig. «Erkennen Sie das Ding da?»
    «Erkennen? Freilich erkenne ich es.» Mr Clancy blähte sich auf vor Stolz und Befriedigung. «Das Ding da, meine Herren, ist ein Dorn, wie ihn gewisse Stämme – genau weiß ich im Augenblick nicht, ob es Eingeborene Südamerikas oder Bewohner Borneos sind – mittels eines Blasrohrs abschießen. Und ich vermute stark, dass die Spitze…»
    «… mit dem berühmten Pfeilgift der südamerikanischen Indianer präpariert wurde», ergänzte Hercule Poirot. «Mais enfin! Est-ce que c’est possible?»
    «Nicht wahr, es klingt unglaublich?», triumphierte Clancy ganz begeistert. «Ich wiederhole: Dergleichen hätte ich mir nie und nimmer träumen lassen. Dass mir, der ich Kriminalgeschichten verfasse, das wirkliche Leben so etwas beschert, das… das…»
    Vor Wonne fehlten ihm die Worte.
    Das Flugzeug neigte sich schwach zur Seite, und die kleine stehende Gruppe taumelte ein bisschen. Gleich darauf glitt die «Prometheus» über das Rollfeld.

 
3
     
    Henry Mitchell, der Steward, und Dr. Bryant beherrschten die Situation nicht länger; der komisch vermummte Kleine riss nämlich die Führung an sich, und er sprach mit einer Autorität und einer Bestimmtheit, dass es niemandem in den Sinn kam, ihm den Gehorsam zu verweigern.
    Er flüsterte Mitchell etwas zu, woraufhin dieser nickte und, sich einen Weg durch die aufbruchbereiten Passagiere bahnend, breitbeinig den Durchgang versperrte, der an den Toiletten vorüber zum vorderen Abteil führte.
    Als das Flugzeug endlich zum Stehen kam, erklang seine Stimme:
    «Meine Herren und Damen, ich muss Sie leider bitten, auf Ihren Plätzen zu bleiben und zu warten, bis ein Beamter den Tatbestand aufgenommen
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