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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau
Autoren: Marek Krajewski
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Fingerspitzen auf die
    Tischplatte: Der Großvater ermahnte den Enkel.
    »Sie müssen den Mörder finden, Herr Mock. Denn
    wissen Sie, was passiert, wenn Sie ihn nicht finden? Ich
    werde in einem Monat in Pension gehen. Und Sie, was
    werden Sie tun? Anstatt meinen Platz einzunehmen, was
    ja bisher sehr wahrscheinlich ist, werden Sie zum Beispiel Bahnschutzkommandant in Obernigk, oder Sie werden
    die Fischteiche in Lüben als Kommandant der dortigen
    Fischereipolizei beaufsichtigen. Sie kennen von der Mal-
    ten gut. Wenn Sie den Mörder nicht finden, wird er sei-
    nen Zorn an Ihnen auslassen, denn er ist immer noch
    sehr einflussreich. Ach, übrigens, bevor ich es vergesse …
    Behalten Sie Max Forstner im Auge. Er informiert die
    Gestapo über jeden unserer Schritte.«
    Mock bedankte sich für den Hinweis und kehrte zu-
    rück in sein Arbeitszimmer. Er blickte aus dem Fenster
    auf den von alten Platanen gesäumten Stadtgraben und
    den sonnenüberfluteten Schlossplatz. Gerade marschierte
    eine Militärkapelle, die für das morgige Frühlingsfestival probte, über den Platz. Das Sonnenlicht umgab Mocks
    Kopf mit einer bernsteinfarbenen Aureole. Er schloss die
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    Augen und sah wieder das Kind mit dem lahmen Bein
    am Fluss vor sich. Und er sah auch wieder die Frau des
    Statthalters von weitem auf ihn zukommen – das Objekt
    seiner jugendlichen Begierden.
    Das Klingeln des Telefons holte ihn zurück in die
    Wirklichkeit. Er fuhr mit den Fingern durch sein leicht
    fettiges Haar und nahm den Hörer ab. Es war Kleinfeld.
    »Herr Rat, die letzte Person, die mit dem Mordopfer
    gesprochen hat, war der Kellner Hirschberg. Wir haben
    ihn verhört. Er hat den Damen um Mitternacht Kaffee in
    den Salon gebracht.«
    »Wo war der Zug um diese Zeit?«
    »Zwischen Liegnitz und Breslau, hinter Maltsch.«
    »Hatte der Zug zwischen Maltsch und Breslau noch
    einen geplanten Halt?«
    »Nein. Er könnte höchstens kurz vor der Einfahrt in
    den Breslauer Bahnhof noch einmal stehen geblieben
    sein, um das grüne Licht abzuwarten.«
    »Danke, Kleinfeld. Sehen Sie sich diesen Hirschberg
    genau an, ob seine Hände sauber sind …«
    »Wird gemacht!«
    Das Telefon klingelte ein zweites Mal.
    »Herr Rat«, ließ sich der Bariton Forstners vernehmen.
    »Professor Andreae hat die Schrift als altsyrisch identifiziert. Am Dienstag werden wir die Übersetzung haben.«
    Und gleich darauf der dritte Anruf.
    »Hier bei Baron von der Malten. Der Herr Baron er-
    wartet Sie so bald wie möglich in seiner Residenz.«
    Mock verwarf seinen ersten Gedanken, den dreisten
    Majordomus des Barons in seine Schranken zu weisen. Er
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    besann sich und versicherte, er werde sogleich zur Stelle
    sein.
    Sobald Forstner von der Universität zurückgekommen
    war, befahl er diesem; ihn unverzüglich in die Eichenallee zur Residenz des Barons zu bringen.
    Das Anwesen war von Presseleuten umringt, die,
    gleich als sie den vorfahrenden Adler erblickten, auf ihn
    zugestürmt kamen. Beide Polizisten gingen wortlos an
    den Reportern vorbei, der Wächter ließ sie auf das
    Grundstück von der Maltens. In der Eingangshalle be-
    grüßte sie der Kammerdiener Matthias.
    »Der Herr Baron möchte den Herrn Rat allein spre-
    chen.« Forstner konnte seine Enttäuschung nicht verber-
    gen. Mock hingegen lächelte innerlich.
    An allen Wänden des Empfangszimmers hingen Stiche
    voll okkulter Symbolik. Und auch die unzähligen dicken
    Folianten, einheitlich in bordeauxrotes Leder gebunden,
    hatten die geheimen Wissenschaften zum Thema. Die
    Sonne musste sich mühsam zwischen den schweren,
    dunkelgrünen Vorhängen hindurchkämpfen. Sie warf ihr
    Licht durch einen schmalen Spalt auf vier große Porzel-
    lanelefanten, die auf ihren Rücken einen Globus trugen.
    Im Halbdämmer glitzerte ein silbernes Modell der Him-
    melssphären mit der Erdkugel im Inneren. Die Stimme
    Oliviers von der Malten, die aus der angrenzenden Bi-
    bliothek zu ihm drang, lenkte Mock von seinen geozen-
    trischen Überlegungen ab.
    »Du hast keine Kinder, Eberhard, also bitte keine
    Kondolenzbezeigungen. Verzeih, dass ich dieses Ge-
    spräch durch die Tür mit dir führe – ich möchte nicht,
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    dass du mich siehst. Du hast Marietta von Kind an ge-
    kannt …«
    Er unterbrach sich, und Mock glaubte ein unterdrück-
    tes Schluchzen zu hören. Nach einem Moment ließ sich
    die leicht veränderte Stimme des Barons erneut verneh-
    men:
    »Zünde dir eine Zigarre an, und hör mir gut zu. Zu-
    nächst: Kannst du diese
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