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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau
Autoren: Marek Krajewski
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schienen Maass’ erschrockene Au-
    gen zu erlöschen. Anwaldt entfernte den Knebel und
    fragte: »Warum hast du mich dem Türken ausgeliefert,
    Maass? Wann haben sie dich gekauft? Warum bist du Ba-
    ron von der Malten gegenüber nicht loyal gewesen? Seine
    Dankbarkeit und sein Geld haben dir dein Leben lang die
    Mühe erspart, Nachhilfeschüler zu suchen. Obwohl …
    Nachhilfe hast du immer gerne gegeben, hm? Besonders
    wenn die Schulmädchen recht hemmungslos waren?«
    Maass grabschte nach der Flasche Jack Daniels auf
    dem Tisch und nahm einen kräftigen Schluck. Seine
    Glatze hatte sich mit kleinen Schweißperlen überzogen.
    »Was glaubst du, Anwaldt, was das Wichtigste auf der
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    Welt ist?« Er hatte aufgehört, sich zu verstellen. Ohne ei-ne Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Das Wichtigste ist
    die Wahrheit. Doch was hast du von der Wahrheit, wenn
    du Nacht für Nacht die Männlichkeit verfluchst, die in
    dir lodert, wenn der Hüftschwung eines vorbeigehenden
    Weibes geheimnisvolle Pyramiden aus Erkenntnis auf-
    baut und unumstößliche Syllogismen vor dir auftürmt.
    Du weißt, du wirst erst dann zur Ruhe kommen, wenn
    sich die renommiertesten wissenschaftlichen Periodika
    um deine Beiträge reißen und wenn die hübschesten
    Nymphchen sich um dich balgen, sodass du sie immer
    wieder aufs Neue besitzen kannst … Kennst du das, An-
    waldt? Vor sechzehn Jahren in Breslau habe ich das er-
    lebt: Ich habe Erkin Informationen über deine Fahndung
    zukommen lassen, und dafür hat er mich auf die Spur
    dieser bisher unentdeckten Handschriften gebracht. So-
    mit lagen mir Nacht für Nacht die gehorsamen Houris zu
    Füßen. Natürlich habe ich gewusst, dass sie mich weder
    lieben noch begehren, doch sei’s drum! Es hat genügt,
    dass sie mir täglich alle meine Wünsche erfüllt haben und
    mir so ein ruhiges Arbeiten ermöglichten. Nur so konnte
    ich das wütende und haltlose Drängen in meinen Lenden
    vergessen und mich meiner wissenschaftlichen Arbeit
    widmen. Ich habe die verschollene Handschrift wieder
    entdeckt – und diese Entdeckung hat mir Weltruhm ge-
    bracht. Als ich von Erkin eine ungeheure Summe und die
    Fotografien der Handschrift bekommen hatte, habe ich
    mich aus Breslau davongemacht. Mir war klar, dass mir
    sämtliche Lehrstühle für Orientalistik offen stehen, ich
    brauchte mich nur zu entscheiden.« Er nahm einen neu-
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    erlichen Schluck Whisky und verzog das Gesicht. »Ich
    habe mich für New York entschieden, doch sogar hier
    habt ihr mich aufgespürt. Aber sagt mir eins: Wozu? Aus
    banaler Rache? Ihr seid doch schließlich Europäer, Chri-
    sten … Gibt es denn bei euch nicht ein Gebot, das besagt:
    Du sollst vergeben?«
    »Du irrst dich, Maass. Sowohl Anwaldt als auch ich
    haben viel mit den Yeziden gemeinsam: Nach allem, was
    wir durchgemacht haben, glauben wir an die Macht des
    Fatums.« Mock öffnete das Fenster und betrachtete die
    große Leuchtreklame für Camel-Zigaretten. »Und du,
    Maass? Glaubst du an die Vorsehung?«
    »Nein …« Maass lachte und ließ eine Reihe schnee-
    weißer Zähne sehen. »Ich glaube an den Zufall. Der Zu-
    fall wollte es, dass mich meine Schülerin mit Erkin be-
    kannt gemacht hat, und dank eines Zufalls bin ich hinter
    deine wahre Herkunft gekommen, Anwaldt …«
    »Schon wieder ein Irrtum, Maass.« Mock machte es
    sich in seinem Sessel gemütlich und öffnete seine elegante Aktenmappe. »Ich werde dir beweisen, dass es das Fatum
    gibt. Erinnerst du dich an die letzten beiden Prophezei-
    ungen von Isidor Friedländer? Die erste lautete ›arar
    chawura makak afar shamajim‹ , in deiner Übersetzung so viel wie ›Ruine, Wunde, eitern, Schutt, Himmel‹, Diese
    Prophezeiung meinte mich, Makak – das ist nichts anderes als mein Name: Mock. Und die Prophezeiung hat sich
    erfüllt: Die Laufbahn des Abwehrhauptmanns Mock liegt
    in Schutt und Ruinen; stattdessen ist der Stasi-Offizier
    Major Eberhard Mock gleichsam als neues Sternbild am
    Himmel erschienen. Ein anderes Gesicht, ein anderer
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    Mensch, aber derselbe Name. Schicksal … Aber jetzt,
    Maass, hör dir die zweite Weissagung Friedländers an.
    Denn da heißt es: ›jeladim akrabbim amoc sewacha chul‹ .
    Du sagtest, das bedeute: ›Kinder, Skorpione, Gitter, weiß‹
    und schließlich ›sich krümen‹ oder ›hinunterfallen‹. Und
    man hätte tatsächlich annehmen können, dass sich das
    alles auf Anwaldt beziehe. Und beinahe hat sich auch al-
    les nach deiner Lesart zugetragen, als im
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