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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau
Autoren: Marek Krajewski
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durchschnittenen Kehle des Majors
    Mahmadow entstanden war und sich schnell auf dem
    Boden ausbreitete.

    Berlin, 19. Juli 1950.
    Acht Uhr abends

    Anwaldt erwachte in einem dunklen Zimmer. Als er die
    Augen öffnete, sah er auf der Zimmerdecke Wasserrefle-
    xe tanzen. Er erhob sich und ging auf unsicheren Beinen
    zum Fenster. Dort unten sah er einen Fluss. Auf einem
    Geländer saß ein Pärchen, das sich zärtlich umarmte.
    Von weitem funkelten die Lichter einer großen Stadt. Ir-
    gendwie kam Anwaldt diese Stadt bekannt vor, doch sein
    Gedächtnis versagte ihm den Dienst. Es waren die Beru-
    higungsmittel, die seine Erinnerung nahezu lahm gelegt
    hatten. Er blickte im Zimmer umher. Das Grau des Fuß-
    bodens wurde von einem goldenen Lichtstreifen durch-
    brochen, der durch die angelehnte Tür fiel. Anwaldt öff-
    nete sie und betrat einen fast leeren Raum, dessen sparta-
    nische Einrichtung lediglich aus einem Tisch, zwei Stüh-
    len und einem Plüschsofa bestand. Auf Boden und Sofa
    verstreut lagen achtlos hingeworfene Kleidungsstücke.
    Das interessierte ihn: Er betrachtete die Sachen lange und 346
    kam zu dem Schluss, dass sie einem Mann und einer Frau
    gehören mussten, dass der Mann wohl noch einen Socken
    sowie seine Unterhose anhaben musste und die Frau le-
    diglich Strümpfe. Erst dann sah er das Paar vor sich am
    Tisch sitzen und freute sich über seine präzise Analyse.
    Fast alles stimmte: Die mollige Blondine hatte tatsächlich nichts als ihre Strümpfe am Leib – und der alte Mann mit
    dem roten, von Narben entstellten Gesicht war zwar wirk-
    lich nur mit seiner Unterhose, aber lediglich einem Sok-
    ken bekleidet. Anwaldt sah ihn lange an und verfluchte
    einmal mehr die Schwäche seines Gedächtnisses. Er ließ
    seinen Blick über den Tisch schweifen, und plötzlich er-
    lebte er wie in einer griechischen Tragödie seinen anagno-rismos – das Motiv des Wiedererkennens. Oft genügte der Geruch eines Menschen, eine Haarsträhne, ein beliebiger
    Gegenstand, um eine ganze Kette von Assoziationen in
    Gang zu setzen: Verschwommene Umrisse gewannen an
    Klarheit und Deutlichkeit, und längst Vergangenes tauch-
    te wieder auf. Das Schachspiel auf dem Tisch brachte eine
    vergessene Saite in ihm wieder zum Schwingen.

    Berlin, 19. Juli 1950.
    Elf Uhr abends

    Anwaldt erwachte in dem kahlen Zimmer auf dem
    Plüschsofa. Die Frau, und mit ihr die Kleidungsstücke,
    waren verschwunden. Neben dem Sofa saß der alte Mann,
    der ihm ungeschickt eine Tasse heißer Bouillon reichte.
    Anwaldt setzte sich auf und trank ein paar Schlucke.
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    »Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«, fragte
    er mit merkwürdig fester Stimme.
    »Sag ruhig du zu mir, mein Sohn!« Der Alte hatte seine
    silberne Zigarettendose hervorgezogen und hielt sie An-
    waldt hin. »Wir haben genug zusammen durchgemacht,
    dass wir zu unserer Vertrautheit stehen können.«
    Anwaldt ließ sich auf das Kissen zurückfallen und
    nahm einen tiefen Zug. Er sah Mock nicht an, als er sagte:
    »Warum hast du mich angelogen? Du hast mich auf
    den Baron gehetzt, aber das hat die Rache der Yeziden
    nicht verhindern können. Warum hast du mich auf mei-
    nen eigenen Vater gehetzt?«
    »Es hat die Rache der Yeziden nicht verhindert, sagst
    du. Und du hast wohl Recht. Aber woher hätte ich das
    damals wissen sollen?« Mock zündete sich eine neue Zi-
    garette an, obwohl er die erste noch nicht zu Ende ge-
    raucht hatte. »Kannst du dich an die schwüle Julinacht in
    Madame le Goefs Bordell erinnern? Schade, dass ich dir
    damals keinen Spiegel vorgehalten habe. Weißt du, wen
    du darin erblickt hättest? Ödipus mit seinen ausgesto-
    chenen Augen. Ehrlich gesagt habe ich selbst nicht ge-
    glaubt, dass du den Yeziden entkommst. Ich hätte dich
    nur auf zwei Arten vor ihnen retten können: Entweder
    hätte ich dich – zumindest für einige Zeit – von der Au-
    ßenwelt isoliert. Oder ich selber hätte dich umbringen
    müssen und dich auf diese Weise vor den Skorpionen
    bewahrt. Was wäre dir lieber gewesen? Vermutlich wür-
    dest du jetzt sogar antworten: Wäre ich damals nur ge-
    storben … nicht wahr?«
    Anwaldt schloss die Augen und versuchte mit zusam-
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    mengekniffenen Lidern den Tränenstrom aufzuhalten,
    der in ihm aufstieg.
    »Es ist schon interessant, mein Leben, nicht wahr? Der
    eine steckt mich ins Waisenhaus – der andere ins Irren-
    haus. Und dann behauptet er noch, dass alles nur zu mei-
    nem Besten geschehen sei …«
    »Lieber Herbert,
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