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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau
Autoren: Marek Krajewski
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1936–1945 alle zwei Monate nach Dresden
    gereist ist, um seinen Verwandten Herbert Anwaldt zu
    besuchen, der dort in verschiedenen Spitälern zur Be-
    handlung untergebracht war. Nach den von Agent GS-
    142 eingeholten Informationen hielt sich Anwaldt zu-
    nächst im psychiatrischen Krankenhaus an der Marienal-
    lee auf. Der Krankenhausbetrieb wurde jedoch im Febru-
    ar 1940 auf Anordnung der SS eingestellt. Anwaldt wurde
    nicht wie die anderen Spitalinsassen im Wald in der Um-
    gebung von Rossendorf erschossen, sondern in das Kran-
    kenhaus für Kriegsveteranen in der Friedrichstraße über-
    stellt. Der offizielle Krankenbericht enthält gefälschte
    Angaben über eine angebliche Teilnahme Anwaldts an
    einer antipolnischen Kampagne. Der Patient überlebte
    den Bombenangriff auf Dresden in diesem Spital. Seit
    März dieses Jahres wird er wieder im psychiatrischen
    Krankenhaus an der Marienallee stationär behandelt. Es
    ist unserem Agenten nicht gelungen, das genaue Ver-
    wandtschaftsverhältnis zwischen Mock und Anwaldt in
    Erfahrung zu bringen, da die Auskünfte des Kranken-
    hauspersonals lediglich die Wiedergabe von Gerüchten
    sind: Die einen behaupteten, dass Anwaldt Mocks unehe-
    licher Sohn, andere hingegen, dass er sein Liebhaber ge-
    wesen sei.«

    343
    Dresden, Montag, 17. Juli 1950.
    Mitternacht

    Direktor Bennert stieg in vollkommener Stille eine Ne-
    bentreppe hinunter, die sonst nur für Notfallevakuierun-
    gen benutzt wurde – eine Maßnahme, die in letzter Zeit
    zum Glück nicht oft angewendet werden musste. Der
    Lichtkegel seiner Taschenlampe schnitt in die Finsternis.
    Seit dem Bombenangriff wurde er auf dieser Treppe noch
    immer von entsetzlicher Angst ergriffen, jedes Mal erin-
    nerte er sich, wie er an jenem 13. Februar 1945, gleich
    beim Krachen der ersten Bombe, in den Keller hinabge-
    rannt war, den man als provisorischen Bunker eingerich-
    tet hatte. Er hatte die Namen seiner beiden Töchter geru-
    fen und sie in dem Gedränge auf der Treppe gesucht –
    vergeblich. Sein Rufen war im Explosionslärm des näch-
    sten Bombardements und im Geschrei der Kranken un-
    tergegangen.
    Er schüttelte die grässlichen Erinnerungen ab und öff-
    nete die Tür, die in den Park des Spitals führte. Dort wartete Major Mahmadow. Er klopfte Bennert jovial auf die
    Schulter und ging an ihm vorbei die Treppe hinauf. Nach
    ein paar Schritten trat er leiser auf. Bennert ließ die Tür angelehnt und schleppte sich langsam wieder nach oben.
    Auf dem Absatz blickte er durch das Fenster, und wieder
    meinte er den älteren Mann in seiner Uniform zu sehen,
    wie er über den Rasen hastete, auf den sich das Mondlicht
    ergoss – ein Anblick, den Bennert seit damals nicht mehr
    vergessen konnte. Wieder hörte er den Lärm der Bomben
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    und das Geschrei der Patienten, und wieder sah er durch
    ebendieses Fenster den Mann mit den Funken im Haar
    und dem von Brandwunden verunstalteten Gesicht, der
    seine bewusstlose Tochter über der Schulter trug.
    Der Pfleger Jürgen Knopp hatte sich mit seinen Kolle-
    gen Frank und Vogl an einen kleinen Tisch gesetzt und
    begann die Karten zu mischen. Skat war die Leidenschaft
    des ganzen unteren Personals. Knopp sagte Pik an und
    spielte gleich den Kreuzbuben aus, um sich die Trümpfe
    zu sichern. Gerade als er seinen Stich einstreichen wollte, ließ sich ein fast unmenschliches Gebrüll vernehmen, das
    über den ganzen dunklen Hof bis zu ihnen drang.
    »Sieh mal einer an, was haben wir denn da für einen
    Brüllaffen?«, dachte Vogl laut.
    »Das ist Anwaldt. Gerade ist das Licht bei ihm ange-
    gangen.« Knopp lachte. »Wahrscheinlich hat er wieder
    eine Kakerlake gesehen.«
    Knopp hatte nur teilweise Recht. Es war zwar wirklich
    Anwaldt, der geschrien hatte – allerdings nicht wegen ei-
    ner Kakerlake. Über den Boden seines Krankenzimmers
    waren soeben – während sie merkwürdig mit ihren lan-
    gen Schwänzen zuckten – vier ausgewachsene, schwarze
    Wüstenskorpione spaziert.

    Fünf Minuten später

    Die Skorpione krabbelten über die Uniformhose und die
    dicht behaarte Hand. Einer hatte seinen Hinterleib ganz
    eingerollt und war auf das Kinn geklettert. Beim halb of-
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    fenen Mund hielt er schwankend inne und fand dann
    Halt auf der fleischigen Wange. Ein anderer hatte die
    Ohrmuschel untersucht und kroch nun weiter durch das
    dichte schwarze Haupthaar. Und ein dritter huschte über
    das Parkett davon, als wollte er vor der Blutlache flüch-
    ten, die unter der
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