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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau
Autoren: Marek Krajewski
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lie-
    gen!«
    Als sie sicher waren, dass sich kein Skorpion mehr im
    Wagon befand, untersuchten sie das zweite Opfer, Fräu-
    lein Françoise Debroux, die Gouvernante der Baronesse.
    Die etwas über vierzig Jahre alte Frau lag über der Arm-
    lehne eines Sofas. Zerrissene Strümpfe, Krampfadern auf
    den Waden, das schlichte Kleid mit dem weißen Kragen
    bis zu den Achseln hinaufgeschlagen, das schüttere Haar,
    gewöhnlich zu einem altmodischen Dutt zusammenge-
    bunden, aufgelöst. Ihre Zähne hatten sich in die ge-
    schwollene Zunge verbissen, um ihren Hals hing eine ab-
    gerissene Vorhangschnur, mit der sie stranguliert worden
    war. Mock blickte angewidert auf die Leiche. Zu seiner
    Erleichterung war wenigstens nirgends mehr ein Skorpi-
    on zu sehen.
    »Und am eigenartigsten ist das da.« Koblischke zeigte
    auf die Wand des Abteils, die mit einem in verschiedenen
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    Blautönen gestreiften Stoff tapeziert war. Zwischen den
    beiden Fenstern konnte man etwas wie eine Schrift er-
    kennen. Es waren zwei Zeilen mit sonderbaren Zeichen.
    Mock sah genauer hin. Er schluckte noch einmal.
    »Ja, ja …« Koblischke hatte ihn gleich verstanden.
    »Jemand hat das mit Blut geschrieben.«

    Mock gab dem diensteifrigen Forstner zu verstehen, dass
    er nicht nach Hause chauffiert werden wolle. Stattdessen
    ging er langsam zu Fuß, den Mantel ließ er aufgeknöpft.
    Schwer fühlte er die Last seiner fünfzig Jahre. Nach einer halben Stunde befand er sich wieder in vertrauter Umgebung. Er blieb vor einem Haustor in der Opitzstraße ste-
    hen und sah auf die Uhr. Es war vier. Um diese Zeit kam
    er gewöhnlich von seinen freitäglichen »Schachpartien«
    zurück. Doch noch an keinem Freitag war er so erschöpft
    heimgekehrt wie heute.
    Als er sich neben seine Frau legte, lauschte er noch
    dem Ticken der Uhr. Bevor er einschlief, kam ihm eine
    Szene aus seiner Jugend in Erinnerung. Als zwanzigjähri-
    ger Student war er bei entfernten Verwandten zu Gast auf
    deren Anwesen bei Trebnitz gewesen. Damals hatte er ein
    bisschen mit der Frau des Statthalters des Vorwerks ge-
    flirtet. Und nach vielen vergeblichen Versuchen hatte er
    sie dazu überredet, sich mit ihm zu einem Spaziergang zu
    verabreden. So hatte er also am Flussufer unter einer al-
    ten Eiche gesessen, sicher, dass er heute endlich sein Verlangen nach dem verführerischen Körper dieser Frau stil-
    len werde. Er hatte eine Zigarette geraucht und den Strei-
    tereien der Mädchen aus dem Dorf zugehört, die am ge-
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    genüberliegenden Flussufer spielten. Grausam hatten sie
    ein Mädchen mit einem lahmen Bein davongejagt und
    ihr immerzu das Wort »Hinkebein« nachgerufen. Das
    Kind hatte am Ufer gestanden und zu Mock herüberge-
    blickt. In der ausgestreckten Hand hielt es eine alte Pup-
    pe, sein mit Flicken übersätes Kleidchen flatterte im
    Wind, und die Schuhe waren über und über mit Lehm
    beschmutzt. Mock hatte der Anblick an einen Vogel mit
    gebrochenem Flügel erinnert. Als er das Mädchen ansah,
    hatte er unwillkürlich weinen müssen.
    Auch jetzt konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
    Seine Frau murmelte etwas im Schlaf. Mock stand auf,
    öffnete das Fenster und hielt das erhitzte Gesicht in den
    Regen. Auch Marietta von der Malten hatte gehinkt – er
    hatte sie schon als Kind gekannt.

    Breslau, 13. Mai, 1933.
    Acht Uhr morgens

    Jeden Samstag fand sich Mock um neun Uhr morgens im
    Polizeipräsidium ein. Die Portiers, Laufburschen und mit
    Ermittlungen Beauftragten warfen sich bedeutungsvolle
    Blicke zu, wenn der lächelnde, unausgeschlafene Krimi-
    nalrat höflich ihren Gruß erwiderte und eine Duftwolke
    teuren Eau de Colognes hinter ihm herwehte. Doch heute
    erinnerte nichts an den sonst so zufrieden wirkenden,
    verständnisvollen und milde gestimmten Vorgesetzten.
    Schon um acht Uhr war er türenknallend in das Gebäude
    gestürmt. Er hatte seinen Schirm mehrere Male energisch
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    ausgeschüttelt, sodass die Wassertropfen nur so stoben.
    Ohne auf das »Guten Morgen, Herr Rat!« des Portiers
    und des verschlafenen Laufburschen zu antworten, lief er
    eilig die Treppe hinauf. Dabei blieb er mit der Schuhspit-
    ze an der obersten Stufe hängen und wäre beinahe der
    Länge nach hingefallen. Der Portier Handke traute seinen
    Ohren kaum – zum ersten Mal hörte er einen deftigen
    Fluch aus dem Munde Mocks.
    »Oje, der Herr Rat ist heute ungnädig!« Er grinste dem
    Laufburschen Bender zu.
    Mock ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den
    Schreibtisch
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