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Tod im Weinkontor

Tod im Weinkontor

Titel: Tod im Weinkontor
Autoren: Michael Siefener
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Truhe zurück, bis er die Wand im
Rücken spürte. Er schaute an Elisabeth Bonenberg vorbei
aus dem Fenster. Nun war der Schatten von Sankt Kolumba mit
seinen mächtigen Schiffen, den entstellenden Gerüsten
und dem Kran kein schlafender Riese mehr, sondern ein
sprungbereites Tier aus einer Welt, die unendlich gottesfern war.
Aus der Unterwelt. Und vor ihr ragten die alten Grabkreuze aus
dem Boden des Kirchhofes. »Wann ist es
geschehen?«
    »Erst vor knapp zwei Wochen.« Elisabeth senkte den
Blick auf ihre breiten Ochsenmaulschuhe. »Dort, auf Eurem
Kirchhof, liegt er begraben. In der Selbstmörderecke, in
ungeweihter Erde. Er ist verscharrt worden wie ein Hund.«
Sie hob den Kopf und deutete in Richtung des Fensters.
    Ludwig war erst durch einen schlimmen Unglücksfall von
seinem Theologiestudium entbunden worden. Sein Bruder Georg war
von einem mächtigen Weinfass überrollt worden, dessen
Verladung er beaufsichtigt hatte. Ein Seil war gerissen.
»Das Leben hängt immer nur an einem einzigen
Faden«, hatte Ludwig damals gesagt und nicht gewusst, ob er
sich in all seiner Trauer um den geliebten Bruder freuen durfte,
dass nach dem Tod des Vaters nun er das Haupt der Familie war und
den Kaufmannsberuf ergreifen konnte, der ihn schon so lange
begeistert hatte. Er konnte Frankenwein von Moselwein, Veltliner
von Muskateller und Malvasier unterscheiden. Auch wusste er genau
um die Qualitäten von Würz- und Feuerweinen, die immer
beliebter wurden. Er kannte die Mischungsverhältnisse besser
als sein Bruder und hatte eine glückliche Hand bei der
Zugabe von Honig, Wacholder, Flieder, Eibisch und anderen
Zutaten, mit denen man dem Wein den Geschmack verleihen konnte,
den die Kunden so schätzten, auch wenn es manchmal wider das
Gesetz war. Ludwig wusste, wo es die besten Lagen an Mosel, Rhein
und Ruwer gab und welche Weingärten im Kölner
Stadtgebiet zur Herstellung von Branntwein taugten. Er hatte
viele von den Winzern gesehen, wenn sie in das stattliche
Giebelhaus in der Rheingasse kamen, und hatte schon als Kind
zwischen den gewaltigen Fässern im Lagerhaus und Keller des
Leyendecker’schen Anwesens gespielt. Seine Familie war seit
langer Zeit im Weinhandel tätig; sie hatte seit über
hundert Jahren einen sehr guten Ruf und machte glänzende
Geschäfte. Welch ein Unterschied zu Ludwigs Vorfahren aus
ferner Zeit, die lediglich mit einem Fässchen Wein durch die
Lande gezogen waren.
    Als Ludwig Leyendecker die Leitung des Handelshauses
übernommen hatte, war ihm gewesen, als sei er ins Paradies
eingerückt. Das war für ihn besser als staubige
Folianten. Er stärkte vor allem den Handel mit England und
fuhr Gewinne ein, die alles übertrafen, was sein Bruder je
erreicht hatte. Als er im Jahre des Herrn 1470, also vor knapp
drei Jahren, in den Rat der Stadt Köln gewählt wurde,
war er auf dem Höhepunkt seiner Macht.
    Und nun war er tot.
    Gestorben durch eigene Hand.
    Angeblich.
    »Ich möchte sein Grab sehen«, sagte Andreas
und stand auf. Seine Beine trugen ihn wieder; das erste Entsetzen
war überwunden.
    Auch Elisabeth erhob sich, und gemeinsam gingen sie nach
draußen auf den Kirchhof, zu dem es vom Pfarrhaus einen
Zugang gab. Bald standen sie unmittelbar an der Friedhofsmauer
vor dem kleinen Grabhügel, den kein Kreuz und keine Platte
schmückte. Eigentlich hatte die Familie Leyendecker ein
Erbbegräbnis in Sankt Kolumba, unweit des Hochaltars, in dem
auch Ludwigs Vater, seine Mutter und sein Bruder schliefen, doch
für einen Selbstmörder war dort kein Platz.
    Die Erde wirkte noch aufgewühlt, beinahe, als habe der
Tote versucht, aus seinem dunklen Gefängnis zu entkommen.
Andreas betete ein Vaterunser und ein Ave Maria für seinen
Freund und musste die Tränen zurückhalten. Gestern noch
hatte er sich auf der anstrengenden Heimreise befunden, hatte den
schrecklichen Wagen ertragen, war bei jedem Schlagloch
durcheinander gewirbelt worden und hatte sich doch so auf die
Heimatstadt und den Freund gefreut. Und jetzt stand er an seinem
Grab.
    »Warum?«, murmelte er. »Warum
nur?«
    Elisabeth beugte sich zu ihm herüber und flüsterte
ihm ins Ohr: »Für mich war es kein
Selbstmord.«
    Andreas zuckte zusammen, ob wegen Elisabeths verwirrender
Worte oder ihrer körperlichen Nähe, wusste er nicht zu
sagen.
    »Ich verstehe das nicht«, gab er zurück und
sah sie an. Ihre Augen befanden sich nur eine Handspanne von
seinen entfernt. Die Sonne senkte
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