Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod im Dom

Tod im Dom

Titel: Tod im Dom
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
Schuldgefühle sofort zu zerstreuen. »Mein Arm!«
    »Können Sie nicht aufpassen, Sie Armleuchter?« raunzte er unbeeindruckt. »Bleiben Sie mir gefälligst mit Ihrem gottverdammten Gips vom Leib!«
    Er stapfte davon und war Sekunden später in der wogenden Menge verschwunden. Ich entfernte mich in die entgegengesetzte Richtung und gratulierte mir ausgiebig zu meinem unverschämten Glück. Das Glück war mir auch weiterhin hold – vor McDonald’s auf der Hohen Straße erspähte ich mein zweites Opfer.
    Diesmal war es eine Frau um die Vierzig, für deren Mantel eine Menge wehrloser Nerze massakriert worden war, mit Lippen dünn und scharf wie Rasierklingen, grausamen Raubvogelaugen und einer zentimeterdicken Make-up-Schicht auf dem angewelkten Gesicht, Typ gelangweilte Direktorengattin, verwöhnt und nie zufrieden, die die Leere in ihrem Leben ausfüllte, indem sie einmal wöchentlich zum Kaninchenvergiften in den Stadtwald fuhr. An ihrer Hand die hochneurotische Tochter, knapp fünf Jahre alt, schon seit der Geburt in psychotherapeutischer Behandlung und der Schrecken jedes Kindergartens, derzeit Rotz und Wasser heulend, weil ihr das Schoßtier der Mutter, ein adrett frisierter Bonsai-Pudel mit tückischem Blick, auf die neuen weißen Stiefel gepinkelt hatte.
    Das Positivste an diesem Trio war noch die offene Krokodillederhandtasche, die an der Schulter der Mutter baumelte. Auf einem Berg von Make-up-Utensilien lag ein silberfädendurchwirktes Portemonnaie und glitzerte verführerisch zu mir herüber.
    Ich pirschte mich an die Beute heran.
    Vom Geplärre der Kleinen sichtlich genervt, holte die fürsorgliche Frau Mama mit der flachen Hand aus und knallte ihr eine; die reizende Kleine revanchierte sich mit einem Tritt gegen den tückischen Bonsai-Pudel, der jaulend einen Meter in die Höhe sprang und sich mit seiner Leine fast selbst strangulierte.
    Ich nutzte die günstige Gelegenheit, angelte das Portemonnaie aus der Handtasche und suchte das Weite, bis Mutter, Tochter und Bonsai-Pudel nur noch eine böse Erinnerung irgendwo in der Menge waren.
    Pfeifend setzte ich meine Diebestour fort.
    Nach einer knappen halben Stunde hatte ich sechs Portemonnaies, zwei Kreditkarten, ein Scheckheft und schätzungsweise zwanzig lose Banknoten in unbekannter Höhe abgegriffen und unter meinem Pullover deponiert. Es wurde höchste Zeit, die Beute zu sichten und die verräterischen Börsen unauffällig verschwinden zu lassen. Vielleicht hatte ich ja schon genug Bargeld zusammengerafft, um den nächsten Flieger in den Süden zu nehmen und Weihnachten am Strand von Ibiza zu feiern! Die Kreditkarten und das Scheckheft würden mir zusätzlich ein hübsches Sümmchen bescheren, auch wenn ich sie nicht persönlich mißbrauchte, sondern an meinen schwulen Nachbarn verkaufte, der seit Jahren von Kreditkarten- und Scheckbetrügereien lebte.
    In der Ferne leuchtete ein prächtiger Weihnachtsstern zwischen den Tannengirlanden und Plastikchristbäumen hervor, wie eine große Verheißung auf eine wunderbare Zukunft, und voller Vertrauen folgte ich seinem Licht.
    Selten war mir so festlich zumute gewesen wie in diesem Moment.
    Kaum war ich unter dem Stern angekommen, teilte sich vor mir die wogende Menge wie sich einst vor Moses das Rote Meer geteilt hatte, und eine langbeinige Brünette stöckelte auf hohen Absätzen direkt auf mich zu. Sie wurde von mindestens hundert lüsternen Blicken und einem liebestrunkenen Weihnachtsmann verfolgt und war so schön, daß das Schicksal sie eigentlich nur für mich bestimmt haben konnte. Fasziniert blieb ich stehen, aber sie spazierte ungerührt an mir vorbei, ohne sich von meinem teuflisch guten Aussehen beeindrucken zu lassen, was auf einen ernsten Fall von Kurzsichtigkeit hindeutete, und verschwand wie ein flüchtiger Traum in der Menge.
    Frustriert sah ich ihr nach.
    Im nächsten Moment prallte der liebestrunkene Weihnachtsmann gegen mich. Offenbar war er ebenso kurzsichtig wie mein brünetter Traum. Der Weihnachtsmann griff nach meinem Gipsarm und riß ihn ab.
    »Au!« sagte ich vor Schreck.
    Der Weihnachtsmann starrte den Gipsarm in seiner Hand an, dann den leer an meiner Seite schlotternden Ärmel, dann mich. Er wurde unter dem Rauschebart käsebleich und gurgelte.
    »Keine Panik«, sagte ich beruhigend. »Ich wollte ihn sowieso amputieren lassen.«
    Der Weihnachtsmann ließ entnervt den Gipsarm fallen; der Arm landete auf dem harten Pflaster, zerbrach aber nicht, was eindeutig für mein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher