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Tod im Dom

Tod im Dom

Titel: Tod im Dom
Autoren: Thomas Ziegler
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handwerkliches Können als Amateurgipser sprach. Als ich mich nach ihm bückte, tauchte hinter dem Weihnachtsmann die neurotische Kleine mit dem tückischen Bonsai-Pudel auf.
    Ihre blauen Kulleraugen wurden riesengroß. Sie drehte sich um und krähte. »Mami, Mami, der Mann hat seinen Arm verloren!«
    Der Pudel fletschte die Zähne und knurrte den Arm an.
    Es wurde höchste Zeit, daß ich von der Bildfläche verschwand.
    Ich griff nach dem Gipsarm, aber der tückische Pudel war schneller. Wie wahnsinnig kläffend stürzte er sich auf ihn, schnappte ihn sich und wollte zwischen den Beinen des Weihnachtsmanns verschwinden. Im letzten Augenblick erwischte ich ihn an der Leine, doch ich hatte die Kräfte des Köters unterschätzt. Ich strauchelte, kippte vornüber und riß den Weihnachtsmann zu Boden. Als ich mich wieder aufrappelte, verrutschte mein Spezialpullover und meine ganze Beute fiel heraus.
    Das silberfädendurchwirkte Portemonnaie landete direkt vor den Füßen der Direktorengattin.
    Sie schnappte hörbar nach Luft. Für einen Moment fehlten ihr die Worte, doch dann schrie sie um so schriller. »Mein Portemonnaie! Das ist ja mein Portemonnaie! Wie kommen Sie an mein Portemonnaie? Zu Hilfe! Der Kerl hat mir mein Portemonnaie geklaut! Warum tut denn keiner was? Warum holt denn niemand die Polizei?«
    Von dem mörderischen Geschrei angelockt, blieben die ersten Passanten stehen, und in ihren Gesichtern war keine Freundlichkeit zu erkennen. Zu allem Überfluß entdeckte ich in der Ferne zwei uniformierte Polizisten auf Streife. Sie reckten bereits die Köpfe. Mir blieben nur noch Sekunden, um einen Teil der Beute zusammenzuraffen und mich aus dem Staub zu machen.
    Blitzschnell bückte ich mich nach dem wertvollsten Stück, der Schlangenlederbrieftasche, aber kaum hatte ich sie ergriffen, packte mich eine Hand an der Schulter und zerrte mich brutal herum. Es war der Juniorchef. Er wirkte nicht erfreut, mich ohne Gipsarm zu sehen, mit einer Börse in der Hand, die eindeutig ihm gehörte. Seine latente Gewaltbereitschaft schlug in offene Mordlust um.
    »Meine Brieftasche!« knirschte er und entriß mir die Börse. »Hab’ ich mir’s doch gleich gedacht! Na warte, du Kröte! Ich werd’ dir das Klauen schon austreiben! Dich mach ich fertig!«
    Er holte mit der Faust aus.
    Ich trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß. Er heulte auf, ließ mich los und begann wie ein Derwisch herumzuhüpfen.
    »Der bringt ihn ja um!« kreischte die Direktorengattin jetzt. »Der Kerl bringt ihn ja um! Warum tut denn keiner was!«
    Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die beiden Polizisten durch die Menge drängten. Zum Teufel mit dem Geld; jetzt ging es um meine Freiheit! Ich wirbelte herum, stieß die Schaulustigen zur Seite und stürzte davon. Hinter mir gellten weitere Schreie, untermalt vom wahnsinnigen Gekläffe des Pudels.
    »Hinterher! Laßt ihn nicht entwischen!«
    »Ja, warum tut denn keiner was?«
    »Sie da, bleiben Sie sofort stehen! Polizei!«
    Ich blieb nicht stehen; ich brach durch die Menge, von blankem Entsetzen und hilfloser Wut erfüllt, vom Geheul der rasenden Menge verfolgt, sieben Jahre Knast oder Schlimmeres vor Augen. Ich strauchelte, fing mich wieder, rannte ein junges Pärchen über den Haufen, stieß mit einem Rentner zusammen, erntete wilde Flüche, einen Stockhieb in den Rücken, strauchelte erneut und rannte weiter. Die Schreie der Verfolger hinter mir wurden leiser, aber das beruhigte mich nur wenig. Ohne mein Tempo zu verringern, passierte ich die Budengasse, hetzte über den Wallraffplatz, am Blaugoldhaus von 4711 vorbei, dann über die Domplatte, die vom Regen wie leergefegt war, und vor mir, majestätisch, düster, ungeheuerlich in seiner steinernen Größe, lag der Dom.
    Ich warf einen Blick über die Schulter.
    Nichts.
    Keine Spur von den beiden Polizisten, dem gewalttätigen Juniorchef oder dem tückischen Pudel. Aber sie konnten jede Sekunde auftauchen. Ich mußte von der Domplatte verschwinden. Sofort.
    Ich drehte mich wieder zum Dom um.
    Eine Gruppe amerikanischer Touristen strömte durch das offene Westportal in die Kathedrale. Spontan schloß ich mich ihnen an.
    Und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

 
2
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    Wenn es etwas gibt, das ich an mir hasse, dann meinen unglückseligen Hang zu spontanen Entscheidungen, und als Frühgeburt weiß ich, wovon ich rede. Statt die vollen neun Monate sicher und geborgen im Bauch meiner Mutter zu verbringen, wie es jedes halbwegs normale Baby getan
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