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Tod im Dom

Tod im Dom

Titel: Tod im Dom
Autoren: Thomas Ziegler
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Davon ganz abgesehen hatte ich ernste Zweifel, ob die Stadt Köln sich dazu durchringen würde, ausgerechnet mir einen Weihnachtsurlaub an den warmen Stränden des Südens zu finanzieren.
    Deprimiert blieb ich im Bett liegen und wartete auf Erleuchtung, doch die Erleuchtung blieb irgendwo im Nebel meiner bösen Ahnungen hängen. Dafür begannen meine Finger zu zucken, was meine bösen Ahnungen nur bestätigte. Ich kannte dieses Zucken. Es war eine Art pawlowscher Reflex, ausgelöst durch nackte Existenzangst, die mich dazu brachte, meine guten Vorsätze spontan zu überdenken. So wie die Dinge lagen, hatte ich mir ohnehin den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt für gute Vorsätze ausgesucht.
    Ich mußte ja nicht gleich die ganze Stadt ausplündern.
    Es genügte, wenn ich das Lebensnotwendigste zusammenraffte und wieder in die Legalität abtauchte, ehe jemand etwas merkte.
    Harry, sagte ich zu mir, Harry, o Harry, du hast keine andere Wahl – das Schicksal will es so.
    Also brühte ich mir den letzten Rest Kaffee auf, machte auf dem Balkon mit Blick auf den Volksgarten einige Lockerungsübungen und holte den Gipsarm aus dem Schrank.
    Die meisten Taschendiebe arbeiten zu zweit; der eine lenkt das Opfer ab, während der andere zugreift und blitzschnell mit dem Diebesgut verschwindet. Teamwork senkt das Risiko, kostet aber die Hälfte der Beute, und wenn ich mir etwas nicht leisten konnte, dann 50 Prozent Verlust von einem Gewinn, den ich mir erst noch erstehlen mußte.
    Da lobte ich mir meinen guten alten Gipspartner.
    Alles, was er von mir verlangte, war gelegentlich eine frische Lage Gips, und Gips gab’s in jedem Heimwerkermarkt zu klauen.
    Ich zog meinen Spezialpullover an – den mit dem straffen Gummibund und dem Schlitz in Brusthöhe – und griff nach meinem Mantel. Ich schlüpfte mit dem linken Arm in den linken Ärmel, steckte den Gipsarm in den rechten Ärmel, sicherte ihn mit einer Schlinge, die ich mir um den Hals legte, und knöpfte den Mantel zu. Mein echter rechter Arm blieb unter dem Mantel verborgen; problemlos konnte ich mit der Hand zwischen den Knöpfen nach draußen greifen, mir nehmen, was mir nicht gehörte, und die Beute durch den Brustschlitz unter den Pullover schieben und dort sicher deponieren.
    Die ganze Konstruktion war einfach, aber genial.
    Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel – er zeigte einen teuflisch gutaussehenden blonden jungen Mann mit einem vertrauenerweckenden Lächeln, das einzustudieren mich Monate gekostet hatte – und stellte befriedigt fest, daß meine Berufskleidung wie angegossen saß.
    Man mußte schon ziemlich böswillig sein, um in mir einen skrupellosen Taschendieb zu vermuten.
    Gut gelaunt machte ich mich auf den Weg zum Chlodwigplatz und fuhr mit der Linie 16 zum Neumarkt. Der Himmel war grau bewölkt, der Tag nur vom Glanz der Adventsbeleuchtung und der festlich dekorierten Schaufenster erhellt, und die Gesichter der anderen Fahrgäste wirkten so düster und unerfreulich wie in einem von meinen besseren Alpträumen.
    Aber ich war schließlich nicht zu meinem Vergnügen unterwegs.
    Als ich am Neumarkt aus der U-Bahn stieg, die völlig überfüllte Passage durchquerte und mich von der Rolltreppe zur Schildergasse hinauftragen ließ, hatte eisiger Nieselregen eingesetzt, aber weder die Kälte noch der Regen schien die Kauflustigen zu schrecken, die zu Tausenden über das Einkaufszentrum im Dreieck zwischen Neumarkt, Heumarkt und Dom hergefallen waren. Dick vermummt und unter aufgespannte Regenschirme geduckt, finstere Entschlossenheit im Blick und vorweihnachtliche Gier im Herzen, plünderten sie die Kaufhäuser, Boutiquen und Läden, als gälte es, einen neuen Weltrekord im Geldausgeben aufzustellen. Auf dem Weihnachtsmarkt am Neumarkt drängten sie sich so dicht, daß man um ihr Leben fürchten mußte, und die Schildergasse war eine einzige brodelnde Menschenmasse.
    Bessere Voraussetzungen konnte man sich als Taschendieb gar nicht wünschen.
    Ich ließ mich von der Menge mittragen, fort vom Weihnachtsmarkt mit seinen glühweinseligen Zechern, der Hohen Straße entgegen, bis mich ein Seitenarm des mächtigen Käuferstroms in den Kaufhof spülte.
    Natürlich geht kein halbwegs normaler Taschendieb ausgerechnet in einem Kaufhaus seinem kriminellen Gewerbe nach. Es wimmelt dort von Detektiven, die nur auf eine Gelegenheit warten, jemand bei einer bösen Tat zu ertappen und sich ihr Kopfgeld zu verdienen; alle Ecken und Winkel, sogar die
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