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Tod eines Maechtigen

Tod eines Maechtigen

Titel: Tod eines Maechtigen
Autoren: Vampira VA
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Hama'aravi, der nur von den Christen »Klagemauer« genannt wurde. Auf hebräisch hieß dieses letzte Überbleibsel des Jahwe-Heiligtums, das Salomo einst hatte errichten lassen, noch immer schlicht Westmauer.
    Eine Weile starrte Gershom Chaim noch auf seinen Zettel in der Mauerfuge. Für jeden anderen mochte das darin eingefaltete Gebet nur eines von vielen sein, denn die Spalten im Köthel quollen schier über von Papier; für Gershom Chaim jedoch war es vielleicht sogar das wichtigste Anliegen, das je ein Mensch im alten Glauben hier direkt vor Gott getragen hatte.
    Gershom wollte lächeln, wollte Hoffnung schöpfen aus dem Gedanken, der Allmächtige Vater könnte seinem Wunsch die gleiche große Bedeutung beimessen. Beides wollte ihm nicht gelingen. Der schmerzhafte Bund von Enttäuschung und Verzweiflung tief in Gershom Chaims Innerstem löste sich nicht, schloß sich eher noch enger und ließ die schmalen Schultern des Mannes sinken, als würde ihm eine unsichtbare Last aufgebürdet, die er kaum zu tragen imstande war. Tatsächlich schien seine ohnedies schon magere Statur binnen eines Augenblicks noch weniger kräftig als eben noch, gerade so, als habe Gershom Chaim ob seiner wachsenden Mutlosigkeit wirklich an Größe verloren.
    Ein wehes Seufzen auf den Lippen, zog er sein abgegriffenes Gebetbuch aus der Tasche seines glänzenden Shabbat-Mantels, schlug es auf und rückte so nah an den Köthel, daß die Mauer ihm den eigenen Atem ins Gesicht zurückwarf. In klagendem Ton rezitierte Gers-hom Chaim alsdann ein Gebet nach dem anderen und mehrte den vielhundertstimmigen Chor jener, die sich mit ihm an der Westmauer eingefunden hatten und Gott anriefen, wie stets zum Shabbat, der am Freitag in der Abenddämmerung begann und in der Samstagnacht endete.
    Wie in Trance verfiel Gershom Chaim, derweil Stunde um Stunde verging. Sein Gesicht erhitzte sich in einem Fieber, das nichts mit Krankheit zu schaffen hatte. Schließlich sank sein Kopf vornüber, seine Stirn berührte den Fels des Köthels, und Gershom empfand die Kühle des Steins wie erlösend.
    Die Kraft seiner Stimme ließ allmählich nach, und irgendwann kamen ihm die Worte an Gott nur noch als Murmeln und Flüstern von den Lippen. Seine Lider hatten sich, bleiern schwer, längst schon über seine Augen gesenkt. Wie im Schlaf sprach er die Gebete, die er seit seiner Kindheit auswendig kannte.
    Doch immer schlichter wurden Gershom Chaims Worte, bis sie nicht mehr die eines erwachsenen Mannes, sondern nur mehr die eines Kindes waren - eines verzweifelten, um Hilfe bettelnden Kindes ...
    Dann - schrak er auf! Wie aus tiefem Traum, und tatsächlich meinte er zu spüren, wie ihm etwas Zentnerschweres von der Brust wich, einem Alpdruck gleich, der im Erwachen floh.
    Etwas legte sich Gershom Chaim dafür auf die Schulter, warm und schwer - eine Hand, die ihn sanft rüttelte.
    Und eine Stimme sprach zu ihm, so nah an seinem Ohr, daß er den Atem des anderen darüber streichen fühlte.
    »Gershom?«
    Sekundenlang regte er sich nicht, stand er starr, als sei er selbst Teil des Kothels, obwohl er die Stimme schon erkannt hatte.
    »Gershom, Freund«, fuhr der andere fort, und vage Sorge schwang in seinem Tonfall mit. »Was hast du? Ist dir nicht gut? Kann ich dir helfen?«
    Endlich wandte Chaim sich um, und automatisch hob er den Blick, weil er wußte, daß er zu dem anderen aufsehen mußte. Itzhak Hare-ven überragte ihn um annähernd eine Haupteslänge. Schon in der Talmudschule damals hatte er zu den Größten gezählt, und Gers-hom Chaim zu den Kleinsten.
    »Laß nur, alter Freund«, wehrte er ab, mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte und die tiefen Schatten aus seinen Zügen nicht vertrieb. »Es ist schon gut.«
    Itzhak Hareven maß ihn mit ebenso mißtrauischem wie besorgtem Blick. »Den Eindruck erweckst du mir aber ganz und gar nicht. Und deine Gebete -« Er schüttelte den Kopf, so heftig, daß ihm die Peiyot, die langen Schläfenlocken, die kennzeichnend sind für chassidische Juden, ums Gesicht tanzten.
    »Es ist unfein, andere beim Beten zu belauschen«, tadelte Gers-hom, aber er tat es lächelnd.
    Hareven hob die Hände, um sich gegen den Vorwurf zu verwahren. »Das lag gewiß nicht in meiner Absicht, mein Freund, glaube mir. Ich kam nur herüber, um dich einzuladen -«
    Er wies über die Schulter nach hinten, und Gershom Chaims Blick folgte dem Deut des anderen.
    Der weite Platz vor der Westmauer war auch jetzt, zu so später Stunde, nicht
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