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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
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dieser Nacht begrub, im Frühjahr mit sich nehmen. Vielleicht ist die Leiche über die Thomas-Mann-Allee hinüber und dann die steile Böschung hinunter und noch übers Ufergelände bis zur Isar geschleppt und dann der Isar anvertraut worden. Der Täter hat wirklich Glück gehabt. Fast fünfzig Zentimeter Neuschnee in dieser Nacht. Vielleicht hat er den Wetterbericht gekannt. Aber wer weiß, was die Schneeschmelze dann entblößen wird. Das alles hat sich Herr Lach von mir schon sagen lassen, und hat dazu geschwiegen. Aber Ihnen hat er Schriftliches mitgegeben. Verzeihen Sie einem Polizisten, wenn er neugierig fragt: Haben Sie’s schon gelesen?
    Ich war gerade durch, als Ihr Anruf kam.
Und? fragte KHK Wedekind.
Aufzeichnungen aus der Ettstraße.
    Da haben wir ihn für achtundvierzig Stunden untergebracht, sagte Herr Wedekind.
    Er sprach mit mir, als wisse er sicher, daß ich, wie die Polizei, an der raschen Aufklärung dieses Falls interessiert sei und, so gut ich könne, mitarbeiten werde. Daß Hans Lach der Täter sei, der nur noch überführt werden müsse, schien festzustehen. Herr Wedekind war gerade dabei, Hans Lachs Bücher zu lesen, da werde er Herrn Lach genauer kennenlernen, als dem lieb sein könne. Ich möge bitte nicht meinen, er habe etwas gegen Herrn Lach oder Herr Lach sei ihm auch nur im mindesten unsympathisch. Es gebe natürlich für den Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte auch Fälle, die den Beamten zum engagierten Verfolger des Täters machten, Delikte, in denen das Opfer grausam oder bestialisch und aus niedrigsten Motiven hingemordet worden sei, dergleichen liege hier ja überhaupt nicht vor. Und trotzdem liege Mord vor. Aber eben ein Mord der feineren, wenn nicht der feinsten Art überhaupt. Der Täter ein Künstler. Und soviel verstehe er, der KHK, auch von Kunst, insbesondere auch von Literatur – er sei ein Leser, wenn auch, bisher wenigstens, kein Lachleser, aber das ändere sich ja gerade –, daß er einen Schriftsteller durchaus auch als ein Opfer zu sehen im Stande sei. Wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinn. Im Augenblick lese er, ja, durchforsche er geradezu Lachs vorletztes Buch Der Wunsch, Verbrecher zu sein. Der autobiographische Anteil sei unübersehbar. Er habe aber zuerst Lachs letztes Buch lesen müssen, Mädchen ohne Zehennägel. Seine bisherigen Ermittlungen – bitte, ohne auch nur die geringste Mitwirkung Lachs – könnten ihn vermuten lassen, dieses Buch, das heißt, die Art wie André Ehrl-König in der SPRECHSTUNDE damit umgegangen ist, habe alles, was sich in Lach gegen Ehrl-König angesammelt haben kann, in den Zustand einer jähen Entzündung versetzt, dann habe er eben seine Fassung verloren und so weiter. Die Party in der Verlegervilla in Bogenhausen, die nach der Sendung immer stattfinde, wenn man die rekonstruieren könnte, wäre der Fall gelöst, man könnte ihn Herrn Lach sozusagen als Manuskript vorlegen, er müßte nur noch unterschreiben. Er, KHK Wedekind, wolle mit diesen Andeutungen nur eins erreichen: Herrn Landolf bitten, dranzubleiben, sich durch keine Reaktion Lachs abschrecken zu lassen. Jeder Mordfall sei eine Tragödie. Und zwar im vollen historischen Sinn dieses Wortes. Aber es sei uns einfach nicht gestattet, eine solche Tragödie geschehen zu lassen, ohne zu versuchen, ihr gerecht zu werden, was soviel heiße wie, seine Stimme wurde jetzt ganz leise: Wir müssen sie aufnehmen, in unsere Sprache, in unsere ganze darauf vorbereitete Tradition, wir müssen sie uns zu eigen machen, durch Teilnahme, werter Herr, und den, dem sie passiert ist, aus seiner entsetzlichen Isolierung erlösen. Glauben Sie mir, so etwas kann einer allein nicht tragen. Dafür gibt es uns. Die sogenannte Menschheit. Entschuldigen Sie, bitte. Ich sagte: Ich bitte Sie. Dann schaltete er wieder um. Ihm sei berichtet worden, daß sich Herr Lach in der Gemeinschaftszelle in der Ettstraße ausschließlich mit einem Benedikt Breithaupt beschäftigt habe, der zur Zeit fast täglich von Stadelheim dorthin zu Vernehmungen überstellt werde. Seine, Wedekinds, Frage nun: Geben die handgeschriebenen Seiten über dieses intensive Miteinanderreden irgendeine Auskunft. Mit uns, Sie, Herr Landolf, eingeschlossen, kein Wort, mit einem iksbeliebigen Untersuchungshäftling stundenlanges Getuschel.
    Ich wußte nicht, warum, ich wußte nur, daß ich das mir Anvertraute jetzt nicht weitergeben sollte. Genau so sagte ich es. Der KHK zeigte oder heuchelte Verständnis.
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