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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
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beider Schultern mit einem Schwert, weil er, Ehrl-König, nirgends so kitzlig sei wie ausgerechnet auf den Schultern, drittens, daß man sich vom königlichen Purpurbaldachin samt Königin nur durch Rückwärtsgehen entfernen dürfe, also dafür müsse er sich einen Ballettmeister nehmen. Seit diese Ehrung gemeldet worden ist, könne sich der so Geehrte vor enthusiastischen Glückwunschbezeugungen nicht mehr retten. Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, was Rang und Namen habe, sei jetzt Gratulant. Am Schluß noch, in Anführungszeichen, was der Geehrte selber in dem Augenblick, als er von der Ehrung erfuhr, gesagt habe: „ Obwohl eine edle Freundin mir aus London meldet, die Zeremonie sei intensely boring, nehme ich diese Ehrung an, stellvertretend für Shakespeare, der ihrer mindestens so würdig gewesen wäre wie ich.”
    Zum Glück stand der Kalterer See schon vor mir. Ich trank die Karaffe leer, bevor der Aufschnitt auf dem Tisch stand und bestellte eine zweite Karaffe.
    Dann ging ich zum Bahnhof und rief von der Telephonzelle aus Erna an und entschuldigte mich. Wofür, fragte sie.
    Für alles, sagte ich. Dann sagte ich nichts mehr. Sie sagte auch nichts mehr. Dann sagte ich: Du bist der einzige Mensch, bei dem ich mich entschuldigen muß.
Sie sagte: Wo bist du jetzt?
    Im Gebirge, sagte ich. Wieder schwiegen wir. Wir wußten beide, keiner würde auflegen. Also, sagte ich.
    Ja, sagte sie, also.
    Ich sagte, daß ich in der Böcklinstraße gewesen sei, vor dem Haus, sie habe die zweite Elegie geübt, aber doch schon eher gespielt als geübt. Wie sie die undurchhörbaren Akkorde plaziert habe und darum herum das Auf und Ab der Töneschleier.
Sie sagte: Wann kommst du?
Da ich jetzt nicht mehr von meiner Haltlosigkeit reden konnte, sagte ich, sozusagen wahrheitsgemäß: Woher soll ich das wissen?
Dann sagte ich: Ich leg jetzt auf.
Sie sagte: Ja.
    Ich legte auf. Nichts war so deutlich wie das Gefühl, daß ich außer Erna keinen Menschen anrufen konnte. Sie hatte sicher auch gelesen, daß es jetzt einen Sir André gab, aber es war ihr nicht wichtig genug gewesen, das zu erwähnen. Unvorstellbar, jetzt Julia anzurufen oder Olga oder Silbenfuchs. Unvorstellbar, in München geblieben zu sein. Worüber dort heute gesprochen werden müßte, wußte ich.
    Auch wenn Silbenfuchs nicht sofort und fröhlich rufen würde: Er hat’s geschafft! Er ist nobilitiert! Dann würde er eben zuerst den Ärger ablassen, den ihm seine philologische Finesse täglich eintrug, wenn er die Zeitung las und da stand, daß ein Politiker gesagt hatte: Da bin ich überfragt. Dergleichen machte Silbenfuchs wütend. Und dann auch noch, ein paar Zeilen später: Ich gehe davon aus … Da warf Silbenfuchs die Zeitung weit weg. Aber wenn er diese zwei Sprachbeulen aufgestochen haben würde, mußte er ja sagen: Sir André! Was sagen Sie dazu?! Welch eine Instinktleistung, sofort wieder abgefahren zu sein, und den triftigen Grund für die Abfahrt erst nachträglich kennengelernt zu haben. Ich würde es nicht zu einem Schlupfwinkel bringen wie RHH, aber warum der die Baldsburg brauchte, begriff ich jetzt. So eine Stadt ist ein Organismus. Wenn an irgendeiner Stelle etwas gegen dich geschieht, kriegst du das mit. Mir schoß es durch den Kopf: Abgesehen davon, daß Alleinseinkönnen, verlangt werden kann, fühlt es sich auch noch an wie eine Wohltat oder wie ein Segen. Ich ging zurück ins Hotel und bestellte noch eine Karaffe Kalterer See auf das Zimmer. Als die auf meinem gebirglerischen Tisch stand – gebirglerisch, weil er eine dicke quadratische Platte hatte und die vier Beine schräg wegstreckte –, legte ich alles, was ich zum Schreiben brauchte, zurecht und fing nicht an. Ich konnte, wenn ich auch nur einen Tropfen Alkoholisches getrunken hatte, nicht schreiben. Aber am nächsten Morgen, nach dem Frühstück zwischen den blauweiß karierten Vorhängen, ging ich hinauf, setzte mich an meinen Tisch, sah, zum ersten Mal, zum Fenster hinaus auf eine steil ansteigende Wiese, auf ein paar Tannen. Es regnete. Der Regen webt mit Wasserfäden das nasse Gewand. Dachte ich. Glasgrün. Zumfensterhinausschauen macht Lyriker aus uns allen. Ich mußte mich Näherem zuwenden. Dem nächsten überhaupt. Also dem Unaufschiebbaren. Hochgefühl sei willkommen! Und fing an.
    Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlaßt fühle, nicht erwartet, muß ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon
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