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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
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Sichel verknallt, will ich nur dem momentanen Schwindel an die Eier, aus denen der nächste Schwindel steigen will. Zum Lachen bleibt: die Ungerechtigkeit favorisieren, ist nichts als die allergrößte Gerechtigkeit gegen das, was als Gerechtigkeit gerade dran ist. Man entkommt dem Zirkel nicht.
    Einmal im Jahr – nur damit die Sichel zufrieden sei – eine Bartholomäusnacht unter den Gutenbestenschönsten. Vielleicht – laß uns träumen – würden wir dann nicht mehr so brutal darum kämpfen, zu den Gutenbestenschönsten zu gehören.

    Sie endete mit einer zirkusdirektorenhaften Geste. Deshalb mußte ich den Beifall mit klatschenden Händen spenden. Und sie im kleinstmöglichen, im zierlichstem Ton:
    Ich habe mit dem Gedanken gespielt, Sie seien ein Werkzeug des Fälligen: ein Anfang der Ungerechtigkeit gegen die Ungerechten. Was soll man mit Gedanken machen als spielen! Es ist gelaufen. Beziehungsweise nicht gelaufen. Miguel Juan. Aquí, Señor, desnudo me tienes a tu pie en esa bendita isla rocosa de Fuerteventura. Miguel el Desterrado läßt grüßen, y la tuya escueta y castiza Julia también.
    Ich stellte mich nicht unter die Sichel. Ich stand überhaupt nicht auf. Ich wartete, bis sie in der Polsterlandschaft einen Platz gefunden hatte, dann las ich.

    2084. Eine Notiz aus der Überlieferung des Zukünftigen
    Jetzt wissen wir, daß das Mittelalter erst beendet war, die Neuzeit erst begonnen hat, als auch in der schroffsten Kluft des Kaukasus und im entlegensten Andennest kein Mensch mehr im sogenannten Geschlechtsverkehr gezeugt wurde; als Papier nicht mehr vorkam; als die Gravitationswellen entdeckt waren und zum ersten Mal normale Körperzellen in Stammzellen umgewandelt wurden und dann endlich der erste Mensch ohne Darm gezüchtet werden durfte. Die E-O-Kultur war da. Wie bitte, fragte sie. Ejakulation und Orgasmus.
    Das hieß für die Literatur: Hemingway lag falsch, als er vorausgesagt hatte, es werde immer mehr Kritiker und immer weniger Schriftsteller geben. Mit der E- O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden die Kritiker wichtiger, als sie je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden. Je mehr geschrieben wurde, desto weniger wurde gelesen. Als die E-O-Kultur global blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen oder es gar nicht erst angefangen. Die Kritiker, jetzt Kritoren genannt, wußten noch, was einmal Literatur gewesen war. Daß sie noch lesen konnten, verschaffte ihnen eine Art religiöser Gewalt. Daß aus nicht mehr als 24 Buchstaben soviel Verschiedenes zusammengesetzt werden konnte, wie die Kritoren, wenn sie über diese Buchstabengebilde stritten, vermitteln konnten, war atemraubend. Die Kritoren lasen zwar auch nicht selber, aber sie ließen lesen und ließen dann die, die etwas geschrieben hatten, etwas, was gerühmt oder verdammt werden mußte, einladen. Andauernd saßen in den Manegen Schriftsteller in Kabinen und lasen von ihren Head-Tops, was sie geschrieben hatten. Nur im Eventpalast waren die Kabinen, in denen die Autoren saßen, aus Glas. Diese Glaskabinen kreisten auf
    Transportbändern unter dem gläsernen Boden der Manege. Oben die Kritoren, genannt die Großen Vier. Der Aal, der Affe, die Auster und Klitornostra oder die Feuerraupe. Auf riesigen Bildschirmen sah man, wie die Großen Vier unter den Lesungen der Schriftsteller litten oder jubilierten. Es gab nur Leiden oder Jubilieren. Solche Event-Manegen gab es in allen Erdteilen Aber die Großen Vier, die die GLÄSERNE MANEGE erfunden hatten, waren die Größten. Im Leiden und im Jubilieren. Der Aal war der unübertreffbare Meister in beidem. Der Affe, die Auster und Klitornostra wußten, daß sie nur auftreten konnten, solange der Aal auftreten konnte Da man aber mit den Antiagingcells das Altern gestoppt hatte, war ein Ende nicht zu befürchten Auch die Fortpflanzung überließ man ja längst nicht mehr irgendwelchen
    Unbeherrschtheitsregungen, die zu ihren Folgen immer im krassesten Mißverhältnis standen. Inzwischen waren sich alle Fakultäten darüber einig geworden, daß die Unverhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung bei dem, was Geschlechtsverkehr genannt wurde, das eigentliche Charakteristikum des Mittelalters gewesen ist, das wir inzwischen durch demographisch kalkulierte Fortpflanzung auf das glücklichste hinter uns gebracht haben. Zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr liefern jetzt alle ihre Ei- und Samenzellen in die Substanz-Bank,
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