Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
Blick. Dieses vollkommen Tendenzlose. Keine Gesellschaft, bitte. Keine Teilnahme. Achten Sie, bitte, mein Nichtinfragekommen für alles. Ich komme in Frage nur noch für nichts. Und diesen Ausdruck hatte ich für ruhig gehalten. Halten wollen. Etwas Unwiderrufliches getan haben.
    Ich konnte nicht sitzen bleiben, mich nicht vom Winterbild draußen einwiegen lassen, ich rannte im Zimmer hin und her, bis mir Lachs Handgeschriebenes einfiel. Und las. Es waren Seiten eines DIN A5-Blocks. Mit Linien, an die sich der Schreiber, weil sie ihm zu weit auseinander standen, nicht gehalten hat. Die Handschrift war schwer lesbar.
    Lieber Michel Landolf, las ich, hier ein paar Notate aus der Ettstraße. Zwei Tage und zwei Nächte. Bitte, aufbewahren für was auch immer. Herzlich Ihr Ex-Nachbar Lach. Ich las:

    Versuch über Größe. Zuerst das Geständnis, daß Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Denken ist großartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht. Nach meiner Erfahrung, der ich neuestens bis zur Unerträglichkeit ausgesetzt bin. In einem Satz gesagt: Immer öfter merke ich, daß Menschen, mit denen ich spreche, während wir mit einande sprechen, größer werden. Ich könnte auch sagen: Ich werde, während wir sprechen, kleiner. Da ist eine peinliche Erfahrung. Und am peinlichsten, wenn das öffentlich vor sich geht. In einem Restaurant. Oder – am allerschlimmsten – im Fernsehstudio. Katastrophal … Aber – und das is die neueste Erfahrung überhaupt – auch wenn andere Leute in einer gewissen Art über mich sprechen, werde ich kleiner. Und das, ohne daß ich mit diesen Leuten zusammen bin oder auch nur weiß, daß die gerade über mich sprechen. Ich sitze zu Hause an meinem Arbeitstisch, und wenn ich aufstehen will, reichen meine Füße nicht mehr auf den Teppich hinab, auf dem mein Schreibtischstuhl steht. Das ist nicht so schlimm, weil ich auf meinem Keshan, wenn ich vom Stuhl hinunterspringe, weich lande. Und – das ist bei dieser Erfahrung das Wichtigste und eigentlich auch das Schönste – nachts regeneriere ich mich. Jeden Morgen, wenn ich aufwache habe ich wieder meine alte Größe. Bis jetzt. Einszweiundachtzig. Seit ich diese Erfahrung des Schrumpfens und Wiederwachsens mache, messe ich mich jeden Tag. Tatsächlich genügt es, um wieder die Normalgröße zu gewinnen, nicht, wach im Bett zu liegen. Ich muß schon schlafen. Und nicht jeder Schlaf bringt gleich viel Regeneration. Inzwischen messe ich mich abends und morgens. Wenn mir abends öfter mal zehn Zentimeter fehlen, fehlen mir nach nicht ganz störungsfreiem Schlaf doch noch zwei oder drei Zentimeter. Ich habe von Schuhen gehört, die so geschaffen sind, daß man in ihnen zwei bis drei Zentimeter größer ist, und man erkennt von außen nicht, daß es sich um eine Schuhkonstruktion handelt. Nach so etwas werde ich jetzt auf jeden Fall suchen. Nach traumlosem Schlaf, in den die Welt also nicht hineinwirkt, habe ich immer meine einszweiundachtzig. Ich glaube noch nicht, daß das Ganze ein Problem für den Psychiater oder Psychotherapeuten ist. Ich werde dieser Erfahrung mit Aufzeichnungen folgen, sie dadurch anschaubar und vielleicht sogar überwindbar machen. Allerdings: Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken. Durch Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen, hilft. Das ist auch eine Erfahrung.

    So weit war ich gerade, als das Telephon läutete. Kriminalhauptkommissar Wedekind vom K
    111. Der Leiter einer Mordkommission für vorsätzliche Tötungsdelikte, jetzt beauftragt mit den Ermittlungen im Fall Ehrl-König/Lach. Von meinem Schweigebesuch hat er gehört, er bittet mich, trotzdem nicht aufzugeben. Ich sei immerhin der einzige von allen, die um
    Besuchserlaubnis gebeten hätten, den Herr Lach empfangen habe. Mich und seine Frau Erna, alle anderen habe er abgelehnt. Er müsse seinen Schweigestreik beenden. Das sei überhaupt keine Taktik, die Erfolg haben könne. Wahrscheinlich spekuliere Lach darauf, daß wir ohne Leiche keine Anklage zustande bringen. Da täuscht er sich. Wir haben den blutgetränkten Pullover des Opfers. Die Schneemassen in der Mordnacht begünstigen momentan den Täter, und in einem Poeten kann das die Illusion fördern, der Schnee werde, was er in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher