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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
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dieses Ritual überhaupt nicht anerkennst, du verhältst dich doch genau so, wie es von einem wie dir erwartet wird. Aber jetzt sei zufrieden, daß du einer Schweigestunde verlegenheitsfrei standgehalten hast. Mensch. Freibleibend. Was soll das jetzt? Weiß nicht. Einfach das Wort, das mich jetzt anzieht. Freibleibend …
    Es war der Beamte, der sagte, es sei Zeit. Ich fand es erstaunlich, daß er das Schweigen nicht kommentierte. Er hätte doch sagen können, er wisse es zu schätzen, daß die beiden Herrn ihn so gar nicht bei seinem Aktenstudium gestört hätten. Aber daß er das Schweigen gar nicht erwähnte, war noch besser. Niveau, dachte ich, der Herr Oberregierungsrat hat Niveau. Beide gingen mit mir bis zum Pförtner. Da ich nicht jetzt noch etwas durch banalen Sarkasmus oder halbgare Ironie verderben wollte, verabschiedete ich mich sozusagen so stumm, wie ich bis dahin gewesen war. Aber ich vermied es, das Nichtssagen pathetisch werden zu lassen. Hans Lach zog ganz zuletzt noch ein paar Seiten, von Hand beschriebene, aus seiner Jackentasche und übergab sie mir. Sein Blick dazu war nichts als sachlich. Draußen in der beglückend kalten Winterwelt merkte ich erst, wie warm es da drinnen gewesen war. Wie oft bei Behörden, überheizt. Auf der Heimfahrt wurde mir (wieder einmal) bewußt, wie wenig man von sich braucht, um ein Auto durch eine Stadt zu lenken, die man kennt. Ich dachte nur an ihn, sah nur ihn vor mir, wurde nicht fertig mit ihm, weil, was mir dort als Ruhe vorgekommen war, jetzt gar nicht mehr so vorkam. Tendenzlos, ja. Aber ruhig? Sein Bild in meiner Vorstellung, sein immer ungeschützt wirkender Blick, die rötlichen Haare, kurze, sich gleich wieder dem Kopf zubiegende Haare, rötlich grau. Würde er sie wachsen lassen, gar nicht vorstellbar, daß das je lange Haare wären. Eine zu hohe, zu runde Stirn. Flache Augenhöhlen. Ach, Hans Lach. Ich schaute und schaute ihn an. Und wußte doch, daß er mir nicht ruhig gegenübergesessen hatte, sondern …Rauchend. Nicht einmal die von ihm gerauchten Zigaretten hatte ich gezählt. Und hätte wirklich Zeit gehabt. Na ja. Hans Lach. Ich mußte durchprobieren, wie dieser Name in den mir geläufigen europäischen Sprachen klingen würde. Suchte ich eine Fluchtmöglichkeit? Ich hoffte, nicht.

    3

    Am meisten ist Gern noch das, was es einmal gewesen sein muß, wenn der Schnee alles zudeckt, alles neuerdings Dazugebaute. Und das gelingt dem Schnee fast jeden Winter ein-, zweimal. Wenn dann die Straßen nicht geräumt werden, die schwarzen Menschen, Gleichgewicht suchend, durch die Luft rudern, dann kann ich arbeiten. Hätte ich arbeiten können, wenn ich nicht in dieses Geschehen hineingeraten wäre.
    Ich kam heim und merkte, daß ich immer noch nicht wußte, wie es Hans Lach ging. Dieses Schweigen. Ach was, Schweigen. Da lernt man Wörter kennen! Wenn sie nicht taugen! Dieses Voreinandersitzen und Nichtssagen. Das kann man doch nicht Schweigen nennen. Er tat mir leid. Das war es. Jetzt erst gestand ich es mir ein: er tat mir leid, weil ich glaubte, daß er es getan haben könnte. Für mich war es immer die fürchterlichste Vorstellung überhaupt: jemanden umgebracht zu haben. Manchmal – sehr selten zum Glück – träumte ich das: du hast jemanden umgebracht, man ist schon auf deiner Spur, du siehst deiner Überführung entgegen, du mußt, um das zu verhindern, noch jemanden umbringen. Die Tage nach solchen Träumen sind immer die glücklichsten Tage überhaupt. Den ganzen Tag könnte ich summen vor Glück: du hast keinen umgebracht, Halleluja.
    Ich war von Amsterdam so jäh weggefahren, ich mußte sofort hinaus nach Stadelheim, weil ich glaubte, er könnte es doch getan haben. Und fürchterlicher konnte nichts sein. Also hin zu ihm. Dann sitzen und nichts sagen. Einfach weil man, wenn jemand jemanden umgebracht hat, nichts mehr sagen kann. Jetzt merkte ich, daß mir der Tote kein bißchen leid tat, nur der Täter. Der Tote leidet doch nicht mehr. Aber der Täter … der kann keine Sekunde lang an etwas anderes denken als an die Sekunde der Tat. Ich müßte mich, wenn mir das passierte, sofort selber umbringen. Nicht, um mich zu strafen, nicht, um zu sühnen. Nur weil es nicht auszuhalten wäre, dieses ewige, unablässige Drandenkenmüssen. Und der saß mir gegenüber, sah mich an, ruhig. Das habe ich mir eingeredet. Ruhig. Er war erledigt, zerquetscht, er hatte sicher immer noch keinen ruhigen Schlaf gefunden. Die Augen. Jetzt erst verstand ich diesen
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