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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
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waren. Außerdem, wenn auch eher mechanisch, eine gewisse Systematik beim Einräumen seiner wenigen wirklichen »Habe«.
    John Gowers hatte nie mehr besessen, als sich in einem Reisesack verstauen ließ. Einen zweiten Anzug, einige Hemden, Unterwäsche, eine ausgeblichene Offiziersmütze der Nordstaaten, seinen Army-Revolver, ein paar Kisten Zigarren, das holzgeschnitzte Etui mit der blauen Brille und eine abgegriffene Ausgabe der Canterbury Tales . Sein Messer steckte wie immer in einer Lederscheide in seinem rechten Stiefel, sein eiserner Freund, der Totschläger, in der Manteltasche. Er dachte über die Richtung nach, dachte an New Orleans und fragte sich, ob Maggie noch lebte.
    Als er leise Schritte vor der Tür seines Büros hörte, glaubte
Gowers zuerst, dass Senator Blandon ungeduldiger war, als er erwartet hatte. Dann erkannte er an der Art des Klopfens, dass ein neuer Fall vor der Tür stand, und legte den Revolver weg, den er instinktiv noch einmal aus seinem Gepäck geholt hatte.
    »Ja?«
    »Sind Sie der Detektiv?«
    Eine Engländerin, wusste Gowers, als sie noch in der Tür stand. Etwas über zwanzig, obere Mittelschicht, merkwürdig blass. Eine Krankheit oder eine Seereise, dachte er. Oder beides.
    »Investigator«, erwiderte Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator.«
    Die Unsicherheit ihres Gangs, die Art, wie sie den Stuhl zurechtrückte, verriet ihm endgültig, dass sie noch keine drei Stunden an Land war und mit der Blandon-Geschichte nichts zu tun haben konnte. Ein durchgegangener Ehemann, Bruder oder Vater, dachte Gowers. Schulden. Oder eine Erbschaft. Er musterte seine Klientin noch einmal. Sie war nicht hässlich, aber auch keine Schönheit, die man auf den Promenaden Londons oder Brightons vermissen würde. Manchmal stahl sich ein unschöner Zug um ihre Lippen, zeigten die Mundwinkel nach unten, als hätte sie in ihrer Jugend auf etwas Saures gebissen und die Erfahrung nie ganz verwunden. Im Augenblick interessierte ihn aber mehr die schmale Taille, der flache Bauch. Keine Schwangerschaft in den letzten Jahren. Aber egal, er würde den Kerl schon auftreiben …
    »Mein Name ist Emmeline Thompson, Mr. Gowers. Mein Vater …«
    Erbschaft!, dachte Gowers.
    »… ist ermordet worden.« Sie schluckte hörbar. »Jedenfalls glaube ich das.«
    Gowers nickte ihr ernst zu. Ohne sie aus den Augen zu lassen, holte er eine Flasche Portwein aus den Tiefen seines Schreibtischs und goss der jungen Dame trotz ihrer heftig abwehrenden Handbewegungen das Glas voll, das für seine Kundschaft reserviert war.
    »Erzählen Sie mehr«, sagte er und schloss konzentriert die Augen.

11.
    Der Investigator wusste, dass die Gegenwart der kleinste Teil der Welt ist; Oberfläche einer sich brechenden Welle, ahnungslos, aber unlöslich verbunden mit der Tiefe, aus der sie steigt, und den Kräften und Widerständen, die sie formen. Seine Mutter hatte ihm von der Welle erzählt, er selbst hatte sie gespürt, in seiner Kindheit schon, und danach in so vielen anderen Zeiten und Situationen, dass man sie verschiedene Leben nennen konnte. Natürlich gab es auch Zufälle, sie waren das Treibgut der Gegenwart und wurden, wenn sie nicht so schnell und spurlos vorübergingen wie ein Fremder in der Menge, ihrerseits Ursache für Wirbel und Strömungen. Die Gegenwart beurteilen, erklären zu wollen, ohne die Vergangenheit zu kennen, hieße, sich von den flüchtigen, oft genug sinnlosen, eben zufälligen Eindrücken des Augenblicks blenden zu lassen, sich nicht an der Sonne, den Sternen zu orientieren, sondern an den Lichtreflexen auf dem Wasser.
    Sicher, man musste die Gegenwart im Auge behalten, vor allem, wenn sie etwa in Form von vier irischen Schlägern daherkam. Dann war ziemlich unerheblich, wer diese Männer waren, woher sie kamen oder wie sie wurden, was sie waren. Dann zählten nur ihre unmittelbaren Absichten und was sich
dagegen tun ließ. Aber um irgendein fremdes Leben oder Sterben auch nur in seinen Umrissen zu erkennen, Linien und Brüche zu sehen, Verbindungen herzustellen, Schlüsse zu ziehen, Beziehungen, Verhaltensweisen, Handlungen und Nichthandlungen zu begreifen, war es besser, die Augen zu schließen und sich der Tiefe anzuvertrauen.
    Nicht so sehr, zu erraten, was man nicht weiß, sondern zu klären und zu ordnen, was man weiß und wissen kann, ist Ermittlungsarbeit. Also fragte John Gowers sich, wer Samuel und Emmeline Thompson waren , der eine, bevor er starb, die andere, ehe sie zu ihm kam. Und Emmeline
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