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Die Boten des Todes

Die Boten des Todes

Titel: Die Boten des Todes
Autoren: Hans Gruhl
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I
     
    Herr Edgar Jokaster erhob sich am
Morgen des 21. Juni 1961, ohne zu wissen, daß der letzte Tag seines Lebens
angebrochen war.
    Seine Frau erwachte, als er rasiert und
angekleidet ins Schlafzimmer zurückkam. Er küßte sie sanft auf die Stirn.
    »Komm bald zurück«, sagte sie. »Und
fahr vorsichtig!«
    Herr Jokaster versprach es.
    Er holte den Wagen aus der Garage und
ließ an der nahe gelegenen Tankstelle Benzin auffüllen und den Reifendruck
prüfen. Man bediente ihn äußerst zuvorkommend. Er galt allgemein als Millionär,
und er war es auch. Dennoch kümmerte er sich um sein Geschäft wie in früheren
Zeiten. Die kleine Reise an diesem 21. Juni gehörte dazu.
    Er erreichte die Autobahn gegen zehn
Uhr und rechnete sich aus, daß er in etwa drei Stunden am Ziel sein könnte.
Dann entdeckte er in der langen Biegung der Einfahrt das winkende Mädchen.
    Sie war blond und schien ziemlich
hübsch zu sein. Neben ihr stand ein kleiner Handkoffer auf der Straße.
    Herr Jokaster hatte nichts gegen
Anhalter, ganz im Gegensatz zu seiner Frau. Der Morgen strahlte, die eigene
Laune war hervorragend. Das Autoradio vertrieb die Zeit auch, aber ein blondes
Mädchen würde das möglicherweise besser können.
    Er hielt neben dem Mädchen. Sie war
wirklich außerordentlich hübsch. Ihr Gesicht war gerötet.
    »Sie würden wirklich...«
    »Steigen Sie ein«, sagte er. »Hier ist
Halteverbot.«
    Sie warf ihren Koffer nach hinten und
setzte sich neben Herrn Jokaster. Er fuhr schnell an.
    »Kein Geld für die Eisenbahn?« fragte
er lächelnd.
    »Nicht viel«, gestand sie.
    Er erfuhr, daß sie Modistin war und
sich vorstellen mußte. Ihr Ziel war dasselbe wie seins. Herr Jokaster achtete
genau auf die Straße, aber hin und wieder musterte er verstohlen das Gesicht
seines Fahrgastes.
    »Warum sehen Sie mich an?«
    »Tut mir leid, daß Sie es bemerkt
haben«, erwiderte er. »Wahrscheinlich klingt es recht abgegriffen — aber
irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Oder Sie sehen jemandem ähnlich, den ich
kenne.«
    »Sie kennen sicher eine Menge Leute.«
    Herr Jokaster gab das zu. Nach einer
Weile fragte er, ob der Dame eine kurze Rast angenehm wäre. Sie hatte nichts
dagegen. Es waren die letzten Worte, die Herr Jokaster in seinem Leben
gesprochen hatte. Er bog ab auf einen Rastplatz. Kein anderer Wagen war zu
sehen. Als er hielt, spürte er plötzlich, wie sich etwas gegen seine Brust
preßte. Er hörte auch den Schuß noch, der ihn tötete.
    Man fand ihn in der folgenden Nacht in
einer Seitenstraße der Stadt, die er ohnehin hatte erreichen wollen. Er lag
lang ausgestreckt auf dem rechten vorderen Sitz, dessen Lehne zurückgeklappt
war. Der Herzschuß hatte nur wenig Blut hervortreten lassen. In der Brieftasche
war kein Geld mehr, sonst fehlte nichts. Der Wagen war abgeschlossen. Er wies
keinerlei Beschädigungen auf. Der Tank war fast leer.
    Der Hergang der Tat ließ sich unschwer
rekonstruieren: Der Täter hatte Herrn Jokaster im Wagen erschossen, während
eines Aufenthaltes, möglicherweise sogar während der Fahrt. Er hatte die Leiche
auf den rechten Sitz gezogen und die Lehne zurückgeklappt. Dann war er
kaltblütig weitergefahren bis zum Anbruch der Dunkelheit und hatte den Wagen
und Herrn Jokaster verlassen. Niemand hatte etwas beobachtet. Das Motiv war
ohne Zweifel Raubmord.
    Ein Beamter überbrachte Frau Jokaster
die Nachricht. Sie verlor schon nach den ersten Sätzen das Bewußtsein.
    Die Polizei fahndete weiter. Sie fand
keine Spur des Mörders, nicht an diesem Tage, noch an den vielen, die darauf
folgten.
     
    Die Zeitung knisterte leise und senkte
sich. Eine Männerhand kam dahinter hervor, tastete nach dem Henkel der
Kaffeetasse. Hand und Tasse verschwanden hinter der Papierwand.
    Herr Adrian van Noringen nahm einen
behutsamen Schluck aus der Tasse. Seine Lippen spitzten sich und er ließ einen
leisen Seufzer des Behagens hören. Dann stellte er die Tasse auf ihren Platz
zurück und schlug die nächste Seite des Weltblattes um.
    Herr Adrian hatte das Pensionsalter
erreicht. Er feierte zur Stunde seinen fünfundsechzigsten Geburtstag, und er
war entschlossen, fortan keinerlei Erwerbstätigkeit mehr auszuüben. Es gab
nichts, was ihn dazu hätte zwingen können. Sein Lebensabend war gesichert. Was
ihm fehlte, war eine Dame, die bereit sein würde, diesen Lebensabend mit ihm zu
teilen.
    Nach tiefen und ernsthaften Bedenken
hatte er sich zu einem ungewöhnlichen Weg entschlossen. Er las an diesem Morgen
nicht die
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