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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
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verstand und fragte ebenfalls flüsternd: »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?« Ihre Stimme war ein wenig verschlafen, nachtrau, und während sie sich räusperte, zeigte er wortlos auf die seitliche Tür.
    »Wenn Chalil Sie hier findet, wird er Sie umbringen!«, flüsterte sie, und ihre Augen waren nun groß vor Angst. Ihre Besorgnis schmeichelte ihm beinahe, und er lächelte ein wenig. Dann zog er das – wie er fand – ziemlich große braune Medizinfläschen hervor, Van Helmonts letzte Arznei.
    »Ich soll Ihnen das hier geben.«
    »Warum kommt der Doktor nicht selbst?«
    Er hatte eine Weile überlegt, was er auf diese Frage antworten würde, und um ihre Lage nicht noch verzweifelter zu machen, sagte er: »Der Doktor musste in Kapstadt von Bord gehen. Er lässt Sie grüßen.«
    Mit einem Kopfnicken nahm sie die Arznei an sich. »Was muss ich tun?«
    »Trinken Sie davon, so viel Sie können. Trinken Sie nichts anderes und essen Sie nichts anderes, zwei Tage lang.«
    »Und es wird helfen?«
    »Ja. Aber es schmeckt scheußlich.« Mit Befriedigung sah er, dass er ihr ein Lächeln entlockt hatte, obwohl es über ihr Gesicht huschte wie gejagt.
    »Danke«, flüsterte sie noch leiser als bisher, fast als hätte sie es nur gedacht. Sie umklammerte das Fläschchen mit ihrer schmalen Hand und ließ beides unter der Bettdecke verschwinden.
    Gowers nickte. Dann holte er Alice im Wunderland aus seiner Jackentasche und legte es lächelnd auf ihr Bett. »Außerdem bringe ich Ihnen Ihr Buch zurück!«
    Sie runzelte die Stirn, sah das Buch an und schüttelte dann den Kopf. »Das ist nicht mein Buch.«
    »Hm …« Er wunderte sich ein wenig. Dann musste es wohl der Gouvernante gehören, deren leise Atemzüge von nebenan zu hören waren. Gowers nahm das Buch wieder an sich und legte es beim Hinausgehen auf eine der Kisten. Und allein der ruhelose Ermittler in ihm stellte eine letzte Frage.
    »Was bedeutet Mrs. M. W.?«
    »M. V.«, erwiderte das Mädchen todmüde. Dann sank sie erschöpft in die Kissen zurück, starrte in weite Fernen und murmelte wie für sich selbst: »Maharani Vidyapati Thakur …«
    Da konnte ja nun wirklich niemand drauf kommen, dachte Gowers und schlich sich so lautlos und spurlos hinaus, wie er gekommen war, indem er die Gepäckstücke, die die Tür verbarrikadierten, immer wieder zentimeterweise von außen nachzog. Aber noch lautloser öffnete sich die erste Tür der Kabinenflucht, und ein schmales, dunkles Auge sah ihn vorüberschleichen, zurück in den finsteren Bauch des Schiffes.

121.
    Es war wieder geschehen, zum zweiten Mal; kaum war der indische Aufstand niedergeschlagen, wurden die Truppen- und Materialtransporte auf den Subkontinent eingeschränkt, die Zahl der aktiven Offiziere stark reduziert, und Mad Hatter stand wieder mit leeren Händen da. Zu jung für den Ruhestand und zu alt für den aktiven Dienst in kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Er war auch wieder verwundet worden, diesmal am Bein. Ein fanatischer, von welchem Rauschgift auch immer halb wahnsinniger Sepoy-Meuterer war mitten in ihre Reihen gesprungen und hatte ihm ein Bajonett durch den Oberschenkel gestoßen, ehe er mit acht Kugeln im Leib zusammenbrach.
    Nur eine Fleischwunde, hatten die Ärzte schon im Feldlazarett gesagt, und das hatte höhere Ehren, das Viktoriakreuz vielleicht oder eine kleine Versehrtenrente, verhindert. Aber Muskeln und Sehnen waren schlecht verheilt und noch mehrmals gerissen. Seither musste er praktisch bei jedem Schritt das leichte Anheben des Knies willentlich herbeiführen, befehlen, es ging nicht mehr unwillkürlich. Er verbarg dieses Handicap mit großer Anstrengung vor seiner Umgebung. Aber wenn er auf andere Dinge konzentriert war, zog er leise schleifend das verletzte Bein nach, wie ein alter Mann.
    Die Jahre 1860 und 61 waren die schwärzesten seiner Laufbahn, und die Suche nach Napoleons Schatz war in dieser Zeit kein harmloses Steckenpferd mehr, sondern wurde zur fixen Idee. Dieser Preis stand ihm zu! Er fuhr sogar nach Frankreich deswegen, sparte sich die Reise nach Paris vom Mund ab und betrachtete es als persönlichen Affront, als er in der Bibliothèque Nationale einen alten Bekannten traf.
     
    Charles Turner war jetzt knapp über dreißig, aber noch immer herausfordernd blond, lockig, sommersprossig und jungenhaft. Er erkannte den Mann sofort, der da über zwei Bände Montholon gebeugt an einem seiner Körpergröße Hohn sprechenden Lesetischchen saß und ihn noch
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