Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
ihn, die Stufe hinunter auf Deck, die er unmöglich gehen konnte, denn für den Bruchteil einer Sekunde hätte er dazu auf einem Bein stehen müssen. Er war müde, er würde stürzen, der Sack würde sein Genick brechen, seinen Schädel knacken wie ein Vogelei.
    Er fühlte, wie seine Beine wegrutschten, wie er fiel, auf dem Deck aufschlug. Aber seine Last fiel nicht mit ihm. Der Offizier, der ihm zuletzt mit schnellen Schritten gefolgt war, hielt den Sack fest, warf ihn neben dem Schanzkleid zu Boden.
    An allen Gliedern zitternd vor Anstrengung, zog sich der Junge auf ein Knie hoch. Er wäre gleich wieder umgefallen, wenn ihn der Mann nicht am Kragen gepackt hätte.
    »Vorsicht, Sir. Er hat bestimmt Läuse!«, rief eine belustigte Stimme.
    »Ja, er hat Läuse«, murmelte der Offizier, der ihn festhielt.
»Und er hat Courage, verdammt noch mal! Wie heißt du, du Zwerg?«, fragte er laut.
    Der Junge sah nur noch zuckende Blitze, Sonnenstrahlen in der Dunkelheit hinter seinen Augenlidern. Und das letzte Wort seiner Mutter klang gellend in seinen Ohren.
    »John«, keuchte er, »John Gowers.« Und während er die Nase hochzog, fragte er keck zurück: »Und wie heißen Sie?«
    Der Offizier lachte dröhnend auf ihn herab, aber es war kein ironisches Lachen mehr. »First Lieutenant Robert McClure«, sagte er. »Willkommen an Bord, Master Gowers. Geh jetzt nach achtern und sag dem Koch, er soll dir was zu essen geben. Und ein paar Ohrfeigen, damit du lernst, wie man mit einem Offizier spricht!«
    Taumelnd ging er nach hinten, tastete sich an der Reling entlang. Es sah aus, als müsste er sich stützen. Und nur der Junge wusste, dass es ganz anders war. Dass er sich festhalten, festklammern musste, weil er so leicht war. Leicht wie eine Feder, die der Wind fortträgt.

123.
    Auf der ersten Reise hatte er an Bord noch nicht systematisch gesucht, jedenfalls nicht bis St. Helena. Als er dort ankam, war Longwood House zu seiner großen Enttäuschung bereits in französischem Besitz; sehr schwer, da oben herumzustöbern. Aber Mad Hatter hatte viel darüber gelesen und noch mehr darüber nachgedacht und war inzwischen davon überzeugt, dass der Schatz nie auf St. Helena gewesen war. Wie hätten die Verbannten das auch anstellen sollen? Die Generalsfrauen, letzten Mätressen des Kaisers von Frankreich mochten bisweilen einzelne Diamanten aus ihren Miedern und Dessous hervorgeholt
haben. Vielleicht, um eine mögliche Flucht Napoleons von St. Helena zu finanzieren, vielleicht auch nur als Symbol für vergangene, bessere Tage, er wusste es nicht. Nur dass der französische Staatsschatz schlecht zwischen ihren Brüsten, Schenkeln, Achselhöhlen Platz gefunden hätte, war Fakt.
    Er war ein nüchterner Mann und hielt sich viel darauf zugute, dass er Menschen und Situationen meist zuverlässig im Voraus berechnen konnte. Natürlich war das ein Vergnügen, waren das Triumphe, die er mit niemandem teilen konnte. Er legte sogar Wert darauf, dass man ihn in dieser Hinsicht unterschätzte, denn das gab ihm Macht über seine Umgebung, ohne dass sie es wusste. Er beobachtete, wartete ab. Und wenn niemand mehr damit rechnete – aus Bequemlichkeit, einfach, weil die Menschen irgendwann aufhören wollen zu rechnen, zu planen –, machte er seine Züge, legte er die Bahnen fest, in denen sich die Dinge bewegen mussten.
    Auf See, im dunklen Schiffsbauch, suchte er nicht nach einem Schatz. Er suchte einen Namen, ein Codewort, einen Kassiber vielleicht oder eine Karte. Das seltsame Frauenzimmer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, mer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, hatte ihn erst darauf gebracht: Gab es nicht zahllose Verstecke an Bord für die wenigen Buchstaben, für das eine Wort? In die Planken geritzt, beim Kalfatern versteckt, zwischen Teer und Werg verborgen? Jetzt, nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, konnte er die Suche auch wieder mit der Systematik betreiben, von der er nie abwich. Sein Leben lang war er klaren Konzepten gefolgt, wenn er auch selten wusste, wohin. Aber wer weiß das schon?
     
    Gowers hatte Lucias Zeichnungen in sein Gedächtnis geprägt und wusste genau, wo die improvisierten Kabinen der Bertrands, Montholons, der Las Cases’ und vieler anderer vor
einem halben Jahrhundert gewesen waren. Er wusste, wo der Mörder früher oder später auftauchen würde, und er wusste jetzt auch, dass er einen Verrückten jagte. Musste man nicht verrückt sein, um für ein Hirngespinst zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher