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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
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Kistenbeschlag und ein Pfeifenstiel, den sie hin und wieder mit Behagen in den Mund steckte. Außerdem hatte sie eine verendete Möwe gefunden und trug Knochen und Federn noch bei sich.
    Ben wollte nicht warten, bis sie all das zu Geld gemacht hätte, zu verlockend war ihr prall gefüllter Beutel, aus dem das Sägeblatt ragte. Aber während er seine übrigen Opfer stets
von hinten gepackt hatte, stellte er sich dem Mädchen mitten in den Weg, vielleicht weil sie so viel kleiner war als er. Ihre graubraune Haut war eisig kalt, wie die aller Flussratten, zu jeder Jahreszeit. Er packte sie an den Handgelenken, aber anstatt um den Beutel zu kämpfen, ließ sie ihn fallen. Und als er sich bückte, um damit wegzulaufen, sprang sie ihm ins Genick wie ein Katze, grub ihre kleinen schwarzen Zähne in sein Fleisch.
    Er hatte nie gegen einen solchen Gegner gekämpft, einen Feind, der ihn nicht verletzen, ihn nicht vertreiben, ihm keine Angst machen, sondern ihn einfach nur töten wollte, mit aller Kraft. Der nicht losließ, an seinen Haaren riss, mit den schmutzigen, scharfen Nägeln nach seinen Augen zielte, auch als er ihn schon von seinem Rücken heruntergezerrt hatte.
    Der Tod selbst hing an ihm und spuckte ihm kaltes Blut ins Gesicht. Entsetzen, Ekel schüttelten Ben, und er wollte nur noch davonlaufen. Aber sie packte ihn wie eine Furie, hielt ihn fest, fauchte, schlug, trat, kratzte blind um sich. Er schleuderte sie schließlich gegen eine niedrige Mauer und flüchtete ohne Beute. Auch ohne zu wissen, ob das Mädchen den Kampf überlebt hatte.
    Von diesem Tag an wollte er sterben, ganz für sich. Und suchte nur noch die beiden Tode, die ihm verheißen waren; bis er das Schiff sah, irgendwo in den westindischen Docks.
    Es war ein Handelsschiff, Viermaster, Gaffelschoner, und es schien ihm riesig. Obwohl es nicht unter Segeln stand, zerrte es an den Tauen, mit denen es ans Land gefesselt war, wie ein lebendiges Wesen. Die kleinen Wellen, die an seinen Leib schlugen, das Knarren der Planken, Singen der Taue und Leinen  – das Schiff sprach zu ihm, in einer seltsamen, unbekannten Sprache.
    Er verstand die Worte nicht, aber es war ein Versprechen.

120.
    Das Mädchen war nicht mehr angebunden, die seidenen Tücher an den Bettpfosten hingen lose herab. Aber mit den schmalen weißen Verbänden an beiden Handgelenken, die auf der leichten Bettdecke lagen, sah sie immer noch wie gefesselt aus.
    Gowers, der sich lautlos und zentimeterweise durch den Türspalt hereingearbeitet hatte, betrachtete die Schlafende, wie er ein Gemälde betrachtet hätte. Das Licht einer einzelnen Kerze verstärkte diesen ätherischen Eindruck noch, und nur an der ganz und gar unätherischen Luft merkte man deutlich, dass man sich an Bord eines seegehenden Schiffes befand.
    Er hatte sich in der Verkleidung eines indischen Kulis erst am Abend des Auslaufens wieder an Bord geschlichen, schlief tagsüber zwischen einigen Tuch- und Baumwollballen und hatte einen ganzen Sack voll Verpflegung, weil man ihn ohne dieses »Frachtgut« auf dem Buckel als Lastenträger kaum ernst genommen oder an Bord gelassen hätte. Nachts legte er sich auf die Lauer, aber da sich der Mörder bisher nicht gezeigt hatte, stand er in der dritten Nacht vor dem Krankenlager der schönen Inderin.
    Sie war höchstens achtzehn, und doch sah er jetzt aus der Nähe, dass sie in den vergangenen Monaten, eingesperrt in der engen Kabine, gefesselt an ein zu weiches Bett, voller Reue für ihre Vergangenheit und voller Angst vor ihrer Zukunft, gelitten hatte. Seltsam bleich für ein Kind ihres Landes, lagen doch dunkle Ringe unter den schönen Augen, traten auch ihre Wangenknochen schon ein wenig zu spitz hervor – ein Zeichen, dass sie zu wenig gegessen, geschlafen und zu viel nachgegrübelt
hatte. Ihre Verzweiflung war weich, so weich wie das Bett, in dem sie lag.
    Im klaren Bewusstsein, dass dies die einzige Berührung zwischen ihnen sein würde, und voller Bedauern darüber, legte er seine Hand auf die blassroten Lippen und sah eine Sekunde später in zwei erschreckt aufgeschlagene Augen, in denen er unter anderen Umständen vielleicht ertrunken wäre. Kaum hörbar flüsterte er: »Doktor Van Helmont schickt mich!«
    Er spürte, wie sich ihr Mund bewegte, fühlte die Wärme ihres Atems in seiner Hand und genoss beides so sehr, dass er noch hinzufügte: »Ich habe eine Medizin für Sie.« Langsam zog er dann die Hand weg, legte nur noch einmal kurz den Finger auf ihre Lippen.
    Sie
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