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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Autoren: Daniel Twardowski
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dareinfinden, in Handelskontoren, Amtsstuben und dergleichen mit der Bitte um Anstellung vorzusprechen.
    Wer es sich irgend leisten konnte, trat einem der Herrenclubs bei, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Dort war man unter seinesgleichen und konnte die Schlachten von Balaclava
und Inkerman in bequemen Polstersesseln nach- und neu und besser schlagen. Andere versuchten, wenigstens einen Posten als Instrukteur in der schrumpfenden Friedensarmee und -flotte zu erhalten, und saßen verbittert in kleinen, ungeheizten Zimmern, wenn ihre Bemühungen fehlschlugen. Für sie alle galt: Je geringer die Wertschätzung war, die sie öffentlich erfuhren, desto unverrückbarer wuchs in ihnen die granitene Vorstellung von ihrer eigenen Ehre und Britanniens Größe. Versteinerte kleine Denkmäler ihrer selbst, putzten sie zuletzt nur noch täglich stundenlang ihre Uniformen, Waffen, wichsten Stiefel, Koppel und Lederzeug und gingen dann die sinnlosen Wachen auf öffentlichen Straßen und Plätzen oder durchstöberten die Gazetten nach den winzigsten Anzeichen eines neuen Krieges, der ihr Elend beenden würde. Wohl dem, der ein Steckenpferd ritt!
     
    Als Mad Hatter begann, in Bibliotheken und Archiven zu überprüfen, ob die abenteuerliche Geschichte des französischen Melders von Bonapartes Schatz überhaupt stimmen konnte, hatte er zuerst über sich selbst gelacht. Schatzsuche – das war etwas für Jungen und Tagediebe, für Leute, die sonst keine Aufgabe hatten. Aber seit Monaten dienstunfähig durch eine Verwundung beim Sturm auf die Bastion Korniloff und auf Halbsold gesetzt, war er ja eben das: ein Mann ohne Aufgabe. Und die Temperaturen des Winters 1855/56 fielen ins Bodenlose, die Lesesäle waren geheizt und die Sache selbst fesselnder, als er anfangs geglaubt hatte.
    Schnell fand er heraus, dass Geschichte immer nur eine Konstruktion ist; labil, mühsam zusammengeleimt aus Daten und Fakten, die sich gegenseitig stützen, erklären und eine innere Folgerichtigkeit, eine Kausalität der Ereignisse vorspiegeln sollen, anhand deren sich Menschenverstand durch das
Chaos von Zeit und Welt tastet. Ihm fielen dabei stets die jämmerlichen Reihen der Kriegsblinden ein, die, einander die Hand auf die Schulter gelegt, sich auf sicheren Bahnen zu bewegen glauben, oder das Maultier, das einer Mohrrübe nachläuft, die der Narr auf seinem Rücken ihm an kurzer Stange vor die Schnauze hält. Auch der Hund, der seinen eigenen Schatten jagt. Aber er beschäftigte sich nicht mit der Philosophie, die darin steckte. Ihn faszinierten die Lücken.
    Er war überrascht, wie viele Lücken es in der Geschichte gab – Tage, Wochen, in denen nach Ansicht der Historiker nichts geschehen war – und wie gut Louis Vivés’ Geschichte vom Schatz Bonapartes in eine dieser Lücken passte. Für hundert Tage, so stand es in den Büchern, hatte Napoleon I. nach seiner Flucht aus Elba Frankreich noch einmal zum Kaiserreich gemacht, aber natürlich war das nur eine hübsche, runde Zahl, die die Schulkinder auswendig lernen konnten. Außerdem klang es besser als achtundsiebzig, neunundachtzig oder dreiundneunzig Tage. Tatsächlich gab es da eine Lücke von drei Wochen, drei ganze Wochen in jenem verregneten Sommer 1815, in denen nicht klar war, wer Frankreich eigentlich regierte.
    Napoleon hatte die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni verloren und war in der Stille, die die geschlagenen Feldherren aller Zeiten umgibt, nach Paris zurückgekehrt. Aber erst am 8. Juli zog der fette Bourbone, der Bruder des Geköpften, Onkel des verschollenen Dauphins, wieder in die Tuilerien und nahm seine Amtsgeschäfte auf. In den Büchern stand über diese Zeit immer nur, Napoleon habe mit seinen engsten Vertrauten beraten, ob er nach Amerika flüchten oder sich stellen sollte. Und wem er sich stellen sollte, Preußen, Österreichern, Engländern oder einem französischen Tribunal. Nur Historiker konnten so denken. Ein Mann, der in weniger
als einem Jahrzehnt Europa erobert hatte, brauchte für diese Überlegung keine drei Wochen. Aber was hatte Napoleon dann getan und geplant in diesen zwanzig Tagen? Wofür war der Marschall Ney wirklich erschossen worden? Und welches Geheimnis hatte er mit sich genommen?
    Nach Louis’ Erzählung hatte man in dieser Zeit Bonapartes Privatvermögen und noch etliches andere in eine Gruft geschafft, und alles, was man heute, ein halbes Jahrhundert später, für ein sorgenfreies Leben benötigte, war der richtige Name auf dem richtigen
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