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Tod am Zollhaus

Tod am Zollhaus

Titel: Tod am Zollhaus
Autoren: Petra Oelker
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zu packen. Während du im Baum …»
    «Lass doch, Gesine», sagte der Mann vom Wagen herunter. «Er wollte nur nachsehen, ob man die Türme von Hamburg schon sieht. Wann haben die Kinder schon mal Zeit, auf Bäumen herumzuklettern?»
    «Du bist zu nachlässig mit ihm, Rudolf. Er muss lernen zuzupacken. Die Bücher machen ihn nicht satt.»
    Ärgerlich wandte sie sich ab, und der Mann auf dem Wagen, Rudolf, beugte sich wortlos wieder über seine Arbeit.
    Das Mädchen auf dem Baumstamm hörte zu und war zufrieden. Die Fremden sprachen im gleichen Ton miteinander wie ihre Eltern. Der dicke Mann, der die Kugeln so schön kreisen lassen konnte, sah noch einmal zu dem Mädchen hinauf, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder den anderen zu. Die Frau, die er Helena genannt hatte, war von der Deichsel heruntergesprungen. Sie schüttelte Brotkrumen von ihrem Rock aus schwerem grauem Stoff und sah sich prüfend um.
    «Bist du alleine?», fragte sie.
    Das Mädchen antwortete nicht. Sie saß nur bewegungslos auf dem Baumstamm und starrte mit einer Mischung von Sehnsucht und Furcht auf die Fremden. Helenas Haar glänzte wie die Kastanien, die das Bauernkind im Herbst als Wintervorrat für das Vieh sammelte. Das Tuch, das sie um ihre Schultern gebunden hatte, erinnerte an nichts, was das Mädchen je gesehen hatte. Seine Farben leuchteten wie Veilchen, frisches Buchengrün, Sumpfdotterblumen und Margeriten. Glänzende Fransen von der Farbe reifer Hagebutten wippten bei jeder Bewegung an den Rändern. Das Tuch hätte sie fast noch lieber berührt als die Flöte.
    Die war verschwunden. Rosina hatte sie in ein weißes Tuch gewickelt und in einen Holzkasten gelegt.
    «Schade», sagte ein junger Mann, der eine sandfarbene Stute mit schwarzer Mähne auf der Wiese herumgeführt hatte und sie nun an den Wagen band. «Unser kleiner Gast möchte sicher gerne noch mehr hören. Wie ich.»
    Sein Haar war von der gleichen Farbe wie die Stute und mit einer glänzenden schwarzen Schleife im Nacken gebunden. Er zog seine braune Jacke aus, und das Mädchen sah, dass sein weißes Hemd weite Ärmel und feine Biesen hatte.
    Er blickte zu ihr hinauf und lächelte.
    «Komm, Muto», rief er dann, «wir geben der Prinzessin zum Abschied noch eine kleine, ganz private Vorstellung.»
    Ein rothaariger Junge von etwa zwölf Jahren hüpfte grinsend von einem der Wagen. Er lief ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf, sprang, wirbelte wie ein lebendiger Ball in einem schnellen Salto durch die Luft – und landete mit beiden Füßen genau auf den Schultern des Mannes. Die Hände der beiden fanden sich, und schon schwebte der Junge kopfüber in der Luft, um in einem neuen Salto zurück ins Gras zu springen.
    Das Mädchen hatte das blitzschnelle Kunststück atemlos verfolgt. So wäre sie auch gerne durch die Luft geflogen, aber nun rief niemand mehr nach ihr. Die Menschen auf dem Grasland hatten den kleinen und den großen Akrobaten umringt. Sie klatschten in die Hände und riefen durcheinander: «Sebastian, wann hast du ihm das beigebracht?», und «Muto, du bist ja ein echter Artist» und «Ihr Geheimniskrämer! Was könnt ihr noch?»
    «Ist das nicht genug für den Anfang?», wehrte Sebastian lachend und außer Atem ab und strubbelte Muto durchs zerzauste Haar. «Es ist nur sein Verdienst. Der kleine Teufelsbraten ist gelenkig wie eine Katze und mutig wie ein Adler. Na, jedenfalls wie ein Bussard.»
    Die anderen waren begeistert, sie schlugen Sebastian auf die Schultern, knufften Muto in die Oberarme und lachten. Nur Muto sagte nichts, obwohl ihn doch alle etwas fragten. Er lachte tonlos mit offenem Mund und strahlenden Augen. Dann lief er über die Wiese, in mutwilligen Sprüngen wie ein Osterlamm, warf die Arme in die Luft und sang ein lautloses Lied.
    Helena sah ihm nach, und das Mädchen verstand nicht, warum sie für einen Moment traurig erschien.
    Bald waren Kisten, Säcke und Körbe, die überall im Gras verstreut gewesen waren, auf den Wagen verstaut. Sebastian und Rosina begannen die Pferde anzuspannen, die schläfrig unter den Bäumen im Gras gestanden hatten.
    Sie gehen fort, dachte das Bauernkind und wünschte sich heiß, Rosina möge noch einmal die Flöte auspacken und das Lied mit den Trillern spielen, nur einmal noch, als es sich plötzlich grob am Kragen gepackt und zurückgerissen fühlte.
    «Gesindel», schrie der Vater und schwang wütend die Forke gegen die Menschen auf der Wiese, «Komödiantenpack, verschwindet von unserem
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