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Tod am Zollhaus

Tod am Zollhaus

Titel: Tod am Zollhaus
Autoren: Petra Oelker
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einem schwimmenden Haus mit dem Wind davonzureisen. Mädchen seien auf Schiffen nicht erlaubt, hatte der Vater gesagt und das Bild schnell in den Sand getreten.
    Dann war er fortgegangen, um die beiden Kühe auf die Weide hinter dem Teich zu bringen. Er hatte nicht vom Meer erzählen wollen, das irgendwo hinter der Stadt begann. Aber seitdem träumte sie von der Stadt und vom Meer.
    Da. Wieder die Triller. Eine mutwillig hüpfende Melodie flog den Wall hinauf. Vorsichtig kroch das Mädchen unter der letzten Brombeerranke hindurch, und endlich sah es, woher die Töne kamen. Auf der Wiese neben der Straße standen drei Wagen, die Pferde waren ausgeschirrt und suchten am Rande des Walls nach frischem Gras.
    Zwischen all den Leuten, die bei ihren Wagen Rast machten, entdeckte sie die Frau sofort. Sie saß mit gekreuzten Füßen auf einer Holzkiste an ein Wagenrad gelehnt und spielte auf einem Ding, das wie eine Flöte aussah und doch ganz anders als die, die Tobias mitbrachte, wenn er am Sonntag zu Besuch kam. Diese hier war nicht aus Holz, sondern glänzte wie die polierten Kerzenleuchter in der Wandsbeker Kirche, wenn Sonnenstrahlen durch die Glasfenster auf den Altar fielen. Und niemals gelangen Tobias solche Töne! Das Mädchen hockte auf dem Wall und lauschte und sah. Sie würde diese Töne und den Glanz nie mehr vergessen, und die Sehnsucht, die sie in ihr weckten, würde sie einige Jahre später aus der Welt der Gehöfte und schützenden Erdwälle fliehen lassen.
    «Holla, Rosina», rief ein dicker Mann mit gelben, struppigen Haaren, «du hast Publikum.»
    Pu-bli-kum. Das Mädchen nahm den schönen Klang des fremden Wortes in seine Gedanken auf und verband es mit den hellen Tönen der Flöte. Dann erst erschrak sie und sprang auf. Sie war entdeckt von diesen Fremden, die so anders aussahen.
    «Lauf nicht weg», rief der Mann, «wir tun dir nichts. Möchtest du ein Stück Brot?»
    Das Mädchen wusste, dass es vor Fremden weglaufen sollte. Aber, so dachte sie, wer so himmlische Musik machen kann, muss zu den ehrbaren Kaufleuten gehören. Sie hätte gerne von dem Brot probiert, aber sie traute sich nicht, den Wall hinunterzulaufen und den Fremden nahe zu kommen.
    «Komm doch her!» Der Mann winkte mit beiden Händen.
    «Lass das Kind in Ruhe, Titus», sagte eine andere Frau, die auf der Deichsel des Wagens saß und ihr lockiges, rotbraunes Haar mit zwei Kämmen feststeckte, «die Bauern mögen es nicht, wenn wir mit ihren Kindern sprechen.»
    «Ach was, Helena. Kein Bauer weit und breit, nur ein neugieriges kleines Fräulein.»
    Er griff in seinen Korb, der neben Kisten und Beuteln im Gras stand, und das Mädchen sah aus seinen Händen fünf bunte Kugeln in die Luft auffliegen und im großen Bogen zurückkehren. Sie stiegen hoch über seinen Kopf, wieder und wieder, bis er eine nach der anderen in das Gras fallen ließ.
    «Willst du es auch mal versuchen?»
    Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. Sie hatte sich auf einen Baumstamm gesetzt, der am Rande des Gestrüpps lag, den grauen Rock fest über die mageren Beine gezogen und starrte auf die Fremden.
    Da waren der Dicke mit den Bällen, die Frau auf der Deichsel des ersten Wagens, Helena hatte er sie genannt, und die andere, die mit der Flöte, Rosina. Niemals hatte sie so schöne Frauen gesehen, und selbst die Narbe, die der Blonden über die linke Wange zum Kinn lief, ließ sie nicht weniger schön erscheinen.
    Auf dem zweiten Wagen hockte ein Mann in einer ordentlichen grünen Joppe und versuchte das Durcheinander von Gepäckstücken zu ordnen. Der lange Regen hatte die Straße in ein endloses Schlammloch verwandelt. Der zweite Wagen steckte mit dem linken Vorderrad tief im Morast. Die hoch aufgetürmte Ladung war verrutscht, das Rad aber zum Glück nicht gebrochen. Kisten und Körbe lagen im Dreck.
    «Gib mir mal den Korb mit den Kerzen, Gesine», rief er der Frau zu, die neben dem Wagen stand und ihm zusah. «Hier ist noch eine Lücke, wenn wir die nicht stopfen, gerät die Ladung wieder ins Rutschen.»
    «Fritz», rief die Frau, «hilf mir. Die Kiste ist zu schwer.»
    Ein Junge, pausbäckig, den Kopf voller kräuseliger, fast weißer Locken und kaum älter als das Kind auf dem Baumstamm, kam hinter dem Wagen hervor und half, die Kiste hinaufzustemmen.
    «Immer ich», maulte er, «warum muss Manon nicht helfen?»
    «Wenn du nicht immer nur vor dich hin träumen würdest, hättest du gesehen, dass deine Schwester Lies hilft, ihre Kräuter in trockene Tücher
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