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Tod am Zollhaus

Tod am Zollhaus

Titel: Tod am Zollhaus
Autoren: Petra Oelker
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beginnen.
    Sicher hat Sophie recht, dachte Claes. Wenn sie im nächsten Sommer heiratet, ist es besser für mich, eine neue Hausfrau zu haben.
    Er hatte Marias schreckliches Ende lange nicht begriffen. Im ersten Jahr nach ihrem Tod betrat er oft den Salon oder ihr Schlafzimmer und wunderte sich, dass sie ihn nicht wie immer erwartete.
    Doch inzwischen hatte er sich sein Leben bequem eingerichtet. Er war nicht sicher, ob er wirklich noch einmal heiraten wollte. Wenn, dann müsste es eine reifere Frau sein, sanft und nachgiebig. Und sie müsste verstehen, dass ihm der Handel Spaß machte, dass es für ihn ein Abenteuer war, seine Geschäfte zu führen, Risiken einzugehen und zu gewinnen. An Verluste mochte er nun nicht denken.
    Eine Woge von Zuversicht erfasste ihn. Alles würde sich regeln. Das Problem Emily hatte sich schon von selbst gelöst. Und die Sache mit den Kaffeelieferungen würde er morgen regeln. Oder nächste Woche, wann immer Captain Braniff mit seiner Brigg in der Bucht vor Anker ging.
    Am Ende der Pier sah er Anne vor der weitgeöffneten Tür des St. Roberts’schen Kontors stehen. In ihrem resedagrünen Kleid und mit der weißen Haube wirkte sie wie eine Lilie. Er wollte ihr zuwinken. Aber das gelang ihm nicht mehr. Claes hörte auch ihren entsetzten Aufschrei nicht. Er hörte nur die Explosion in seinem Kopf, ein seltsames Knirschen – dann war Stille. Eine eigentümliche, dunkle Stille, wie ein Versinken. Er spürte nichts, keinen Schmerz, kein Erstaunen und auch nicht mehr die Freude, die ihn so erregt hatte.
    Er lag unter einem Haufen zerborstener Fässer, aus denen gelber Zucker und braunes Getreide auf die Pier rieselten. Sein Körper war kaum zu sehen.
    «Der is hin», brummte der Alte, der auf einem Hocker in der Sonne saß und Äpfel schälte.
    Aber niemand hörte ihm zu, alle waren zusammengelaufen und versuchten, den leblosen Körper unter den Fässern hervorzuziehen.
    Keiner sah den Mann, der im Schatten der Lagerhäuser den Hang hinaufging und den Weg nach St. Peter einschlug. Trotz seines steifen Beines bewegte er sich geschmeidig wie ein Fuchs.

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    2. Kapitel
    Frühling 1765
    Dienstag
    Sanft flirrten die Töne durch die kühle Aprilluft, stiegen zu einem sehnsuchtsvollen Tremolo auf und erreichten in Trillern, die jedem Pirol Ehre gemacht hätten, ihren Höhepunkt. Dann war es wieder still. Das Mädchen sah sich um. Solche Töne hatte sie noch nie gehört. Das musste ein wunderbarer Vogel sein, mit buntem Gefieder und langem Hals. Auf den kahlen Ästen der Erlen hockten aber nur ein paar aufgeplusterte Spatzen, die Schwalben und all die anderen Sommersänger waren noch nicht aus dem Süden zurückgekehrt.
    Wieder ein Triller. Und Stimmen. Das konnte kein Vogel sein. Das waren Menschen.
    Vorsichtig kroch sie auf den Erdwall, der das Gehöft schützend umschloss, schlüpfte durch die Lücke des dichten Gestrüpps aus Brombeer- und Geißblattranken auf der Kuppe und sah hinunter auf das Grasland. Es war ihr verboten, die Welt jenseits des Erdwalles allein zu betreten, denn dort war die große Straße. Eine gefährliche Welt, so hatte man ihr erzählt, durch die nicht nur ehrbare Kaufleute in Kutschen und auf Fuhrwerken reisten, sondern auch all das Gesindel, das in den Städten sein Unwesen trieb.
    Das Mädchen war schon neun Jahre alt und oft den Erdwall hinaufgekrochen. Sie hatte viele Fuhrwerke gesehen und sicher auch Gesindel. Aber weil sie nicht wusste, wie sie Kaufleute von Gesindel unterscheiden konnte, wusste sie auch nicht, wen sie gesehen hatte.
    Auf der Straße bewegten sich Menschen, Wagen, Pferde und Kutschen, und manchmal stellte das Mädchen sich vor, wie es über den Wall kroch, auf die Wiese lief und mit diesen geheimnisvollen Wesen verschwand. Sie hatte noch nie eine Stadt gesehen, nur manchmal, bei klarem Wetter, konnte sie vom Wipfel der Buche am Teich die Spitzen der Kirchtürme hinter den Wäldern erkennen. Die Geschichten, die der Vater erzählte, wenn er von einem seiner seltenen Ausflüge in diese Welt der Wunder zurückkam, hatten ihrer Phantasie prächtige Bilder von Gefahr und sündigem Prunk gemalt.
    Der Vater hatte auch von Schiffen erzählt, größer als ein Haus, deren Segel an baumhohe Masten gespannt waren. Darin fing sich der Wind und trieb die Schiffe über die unendlichen Meere in fremde Länder. Er hatte eines mit der Haselgerte in den festen Sand vor der Scheune geritzt, und seit diesem Tag träumte das Mädchen davon, auf so
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