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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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Wie soll das morgen werden? Von Mikes Hemd ist ein Knopf abgesprungen. Es ist maßgeschneidert und am Bauch extra großzügig geschnitten. Dennoch: Mein Cousin Ben aus Split rutscht am Boden herum und sucht den Knopf.
    Am nächsten Morgen in der Synagoge sind alle schon richtig weich gekocht, als David nach zwei Stunden allgemeiner Gebete endlich mit seiner Parascha beginnt. Außer Raffi, der alles für schlechtes Theater für die zu vielen anwesenden Nichtjuden hält. Georg ist den Tränen nahe und hält sich an zwei Freunden fest, denen es nicht anders geht. Und ich denke alles gleichzeitig: ein Meer aus orangenen Kippot im Raum. Es sieht aus wie im Vatikan zur Ostermesse. Mein Vater fehlt mir. Und meine Mutter auch. Hoffentlich lässt David die Thora nicht fallen. Hoffentlich reicht wenigstens mittags das Essen. Bestimmt können die Toten bei der Bar-Mizwa zusehen – bei großen religiösen Akten werden weder Kosten noch Mühen gescheut und es gibt eine Direktübertragung. David strahlt und benimmt sich für kurze Zeit wie ein Mensch. Es ist wirklich wie im Theater hier, nur dramatischer. Ob meine Tante genug hört? Raffi hört nicht auf zu nörgeln, das sehe ich von Weitem. Wenn sie mich in den Männertrakt ließen, ich würde ihn erschlagen.
    Erst nach einigen Minuten höre ich David singen. Er steht mit dem Rücken zu uns zur Thora gewandt, singt ruhig und laut, neben ihm der Kantor. Er macht es gut, und sein Gesangerfüllt die Synagoge. Als er fertig ist, dreht er sich um und grinst. Dann sagt er: »Danke!«
    Er hat eine Rede vorbereitet, die seine Parascha erklärt und die er mühelos auf jedem Parteitag halten könnte. Seine Vorbilder müssen Willy Brandt oder Obama sein, wie er sich auf dem Rednerpult aufstützt und über das Mikrofon lehnt, mit den Händen gestikuliert. Er führt einen komplizierten Diskurs über Macht und Verantwortung, ein dreizehnjähriges Monster, denke ich, das schon jetzt Politik betreibt. Er versäumt es nicht, sich zu bedanken: bei dem Rabbiner, dem Kantor, seiner Familie, ja sogar bei seinem kleinen Bruder. Er ist so charmant, dass es einem die Sprache verschlägt. Die Gäste gehen mit, er hat alle in seiner Hand. Mir ist leicht unwohl bei so viel Perfektion. Und wieder zeigt sich, dass Gott gelegentlich auch in der Synagoge vorbeischaut. Diesmal in der Gestalt eines Rabbiners. »Komm mal her, David«, sagt dieser weise Mann und legt seinen Arm um ihn. »Gut hast du das gemacht, du bist ein kluger Bursche. Aber werde nicht zu schnell erwachsen. Ab jetzt musst du wirklich alles halten, was du versprichst. Du erinnerst mich an jemanden, den ich gut kannte und den ich sehr mochte. Deinen Großvater. Er wäre stolz auf dich. Aber lass dir Zeit, ihm nachzueifern.«
    Mehr sagt er nicht, und der altkluge, coole David legt seinen Kopf an die Schulter des alten Mannes und weint. Und mit ihm weint der ganze Saal. Das hochbegabte kleine Monster wird plötzlich wieder zu einem Jungen mit Herz, die Anspannung der letzten Wochen fällt von ihm ab. Gott sei Dank, denke ich – denken alle: Er ist ein Mensch! Der Kantor legt seine Hand auf Davids Schulter, singt den Segen: Gott segne und beschütze dich! Sein samtweicher, dunkler Bariton hüllt alle ein. Sammy reicht orangene Taschentücher, die eine Freundin geschneidert hat. Ein Schniefen und Schnäuzen zieht durch den Raum.
    Hast du gut gemacht, Nanuska, müssen wir zugeben. Durchgehalten bis zum Schluss.
    Gut schaut der David aus, wie ich damals. (Mein Vater)
    Du verwöhnst ihn. Und die Kippot sind viel zu orange! (Meine Mutter)
    Ein paar wichtigere Leute hättest du schon einladen können, na ja, du musst es ja wissen … Schade, dass wir nicht dabei sein können! Maseltov, Nanuska, kannst wirklich stolz sein … (Beide)
    Das Essen hat ausgereicht, morgens wie abends. Der Rabbiner und der Kantor haben Goldmünzen geschenkt bekommen: Schweizer Gulden von 1842. Sie sind von beständigem Wert und lassen sich mit leichterer Hand verschenken als Umschläge mit Banknoten. Sie waren beeindruckt. Das Fest abends lief mühelos wie von selbst. Es hat allen gefallen – außer Raffi, dem waren die Ansprachen zu unprofessionell, die Band zu laut, und überhaupt: die Garderobieren an der Mantelausgabe fehlten. Womit er völlig recht hatte: Die Garderobe brach unter der Last der 170 geladenen Mäntel zusammen, die wenigen Reden waren persönlich und nicht brillant, und die Sängerin der Band war hochschwanger. Wir haben getanzt, gefeiert, getrunken und
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