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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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das haben wir gleich.
    »Ich schaue sofort nach!«, sage ich eifrig.
    »Sie? Eine Frau? Nachschauen? Dann können Sie die Tefillin gleich wegwerfen! Und überhaupt: aufmachen, goyim naches! Sie kaufen neue. Kaufen Sie, sofort!«
    Was für eine Religion, denke ich. Eine Regel- und Gesetzesfabrik. Frauenfeindlich und humorlos. Aber geschäftstüchtig! Ich würde gern gehen. Aber David rührt sich nicht. Sein Blick ist entschieden, geradezu zionistisch. Hätten wir ihn doch auf die Waldorfschule gegeben, dieses und einiges andere wäre uns erspart geblieben … Der Rabbiner starrt David an. David starrt den Rabbiner an. Es fällt kein Wort. Aber sie sprechen miteinander. Ich weiß nicht, was die beiden da stumm verhandeln. Ich weiß nur: Ich bin draußen.
    Im Auto platze ich: »David, wir lassen’s! Wir lassen diese ganze orthodoxe Chose. Ob liberal oder nicht, die sind alle gleich! Ein Haufen chauvinistischer Männer, die seit Jahrzehnten, was sag ich, seit Jahrhunderten jede Form von Entwicklung verabscheuen und verhindern! Willst du so werden? Wenn ja, nur über meine Leiche! Frauen, was sind die für die? Hast du gemerkt: Der roch! Und überhaupt roch es da! Ungelüftete Religion! Aber Lüften hilft da schon nicht mehr! Da ist mir das Kaufhaus gegenüber tausendmal lieber. Lass uns abends die Party machen und den ganzen restlichen Mist vergessen! Dieser Schmock! Er schaut mich nicht an. Er gibt mir nicht die Hand. Wie will so einer Sex haben? Zum Beispiel mit einer Frau? Er muss doch irgendwie unzählige Kinder kriegen. Ist doch vorgeschrieben! Was ist schlecht an Reformen? An Veränderung? An Frauen? Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter. Gut, diese übergetretene Rabbinerin in Mitte, ein bisschen sehr forciert! Aber das hier? Rückwärtsgewandt seit Jahrtausenden!
    Ich lasse mir doch von dem keine neuen Tefillin andrehen, nur weil die meinen Vater für unkoscher halten! Da kauf ich dir lieber neue Schienbeinschoner für die nächste Sommersaison! Man muss sich nicht alles gefallen lassen! Wirklich nicht …«
    Ich mache meinem Ärger Luft. Meinem Ärger über das ganze vergangene Jahr, über die alten Regeln, die Gesetze, die Frauenfeindlichkeit. Und über alles, was ich nicht akzeptieren kann an meiner Religion. Im Rückspiegel sehe ich David, er trägt Kopfhörer, hört nicht mich, sondern ungerührt Musik aus seinem iPod. Diese Bar-Mizwa war ein Fehler. Ein intellektueller Rückschritt, religiöser Fanatismus und ein finanzielles Debakel. Zum Jahreswechsel werde ich konvertieren. Buddhismus schwebt mir vor.
    Zwei Tage halte ich mich von jeder Form von Judentum fern. Ich brauche Abstand, Erholung. Dann fange ich an, die Wohnung aufzuräumen, für die anrückenden Gäste.
    Natürlich behauptet jeder, der aufräumt, er suche nichts Bestimmtes. Ich habe wirklich nichts gesucht. Außer vielleicht Schmuck, Devisen, Wertpapiere, um die Party zu bezahlen.
    Ich drehe das kleine Plastiktütchen hin und her, den Inhalt kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Etwas glitzert. Einzelteile einer Kette oder eines Armbands, das auf Reparatur wartet. Vielleicht. Aber die grauen Stücke darin?
    Unter dem Licht der Nachttischlampe identifiziere ich schließlich den Inhalt: Zähne. Es sind die ausgefallenen Zähne meiner Mutter – mit ihren sämtlichen Goldfüllungen. Die hätte ich lieber nicht gefunden, ich schwör’s. Wie groß Zähne sind. Zähne eines ausgewachsenen Menschen. Nicht so wie diese kleinen Milchzähnchen, die man unter das Kopfkissen legt für die Zahnfee. Meine Mutter hatte riesige Zähne, die – wenn sie bemüht lächelte – ihr Lächeln noch falscher wirken ließen. Sie hatte enorm große Zähne. Und Parodontose.Ich erinnere mich an ganze Sommerferien, in denen meine Mutter unter starken Zahnschmerzen litt und wir sämtliche Apotheken der italienischen Riviera nach Schmerzmitteln abfuhren. Nie waren die Tabletten stark genug. Meine Mutter litt furchtbar, ihre Laune und die Ferien waren dementsprechend. Mit knapp 50 Jahren war damit Schluss. Sie erhielt ein komplett neues Gebiss, ebenso riesig die Zähne, ebenso falsch das Lächeln. Wenn ich sie bat, nicht ganz so breit und ausladend zu lächeln, sagte sie: »Parodontose aus dem Lager Rab. Von einem Kapo angehängt.« – »Ihr hattet Zahnbürsten im Lager?«, wunderte ich mich. Dann grinsten wieder ihre Zähne, breit und erschreckend, aber sie sagte weiter nichts.
    Ein paar Tage lasse ich die Zähne in ihrer Plastiktüte auf meinem
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