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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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hatte einen Fahrschein.« Ich schaute ihn an und sah, wie man ohne Tränen weinen kann. Seine Frau saß dabei, sie reichte ihm die Tabletten für den Blutdruck, lächelte mich entschuldigend an. Sie sei »nur« vom Anhalter Bahnhof mit dem Kindertransport nach England gekommen. Ihr Vater habe sie, als sie sieben Jahre alt war, sicherheitshalber dorthin geschickt. Er selbst sei 1941 mit der Transsibirischen nach Moskau, dann mit dem letzten Schiff nach Japan. Aber dort hätten die Japaner bei Kriegseintritt die Juden weiter nach Schanghai verfrachtet. Die Mutter war währenddessen in Chile angekommen. Nach 9 Jahren England sei sie ihr 1947 nach Chile gefolgt. Sonst sei alles gut. Sie habe nicht so viel gelitten, nicht wie ihr Mann. Sie sei nur sehr allein gewesen.
    Ich besuchte Miriam in der Wiesbadener Straße. Ich fragte sie, ob sie sich an den Namen ihres Vaters erinnern könne. Ich merkte, dass ich eine sehr dumme Frage gestellt hatte. Miriam starrte mich an und fing an zu weinen, weinte erst einmal den ganzen Nachmittag. Miriam wurde aus Ungarn verschleppt. Sie beschrieb die Reiseroute bis Auschwitz, zählte die Ortsnamen auf. Es klang absurd, aber alles stimmte, in der Gemeindebibliothek fand ich jedes Dorf wieder, von dem Miriam erzählt hatte. Ich trug ihre leeren Flaschen zu Getränke Hoffmann. Das verschaffte mir eine kleine Pause von der Hölle. Sie backte mir einen Kuchen und strickte kleine Söckchen für meinen gerade geborenen Sohn, der friedlich auf dem Teppich schlief. Ich ging sie noch eine ganze Zeit lang besuchen, einfach so.
    Kahn hatte früher Cohn geheißen und wohnte im Grunewald in der »wilden Villa«. Das Wildeste an der Villa war jetzt der Efeu. Ansonsten war die Hecke exakt einen Meter und der Rasen einen Zentimeter hoch, wie bei den angrenzenden Nachbarn auch.
    »Kahn!«, rief ich. »Wie geht’s?«
    Kahn brüllte zurück. »Ich fühle nichts mehr. Endlich.« Und starrte wieder auf den Fernseher.
    Kahn hatte die Nummer 78193.
    »Die Nazis haben im Zweiten Weltkrieg nur mitgenommen, was tragbar war. Die Kommunisten aber nach dem Krieg haben alles beschlagnahmt.«
    Na, so stimmt das ja auch nicht, dachte ich, wollte Kahn aber nicht verbessern. Er machte unbeirrt weiter: »Fazit ist: Mein Vermögen ist weg, gestohlen oder enteignet, egal. Andere Menschen wohnen unser Leben ab!« Armer Kahn, gefangen im Kreisel der widerfahrenen Ungerechtigkeiten. Er konnte nicht mehr raus. Er wartete auf das Ende, das weitaus undramatischer sein würde als sein Leben.
    Oranienburg, wo Kurt im Schrebergarten angrenzend an den Lagerzaun von Sachsenhausen überlebt hatte. »Wie Hänschen Rosenthal«, grinste Kurt. Er saß auf seinem Sofa unter einem großen Plakat, auf dem »Dalli-Dalli« stand und ein kleiner Mann beherzt in die Luft sprang.
    Gemeinsam war allen, dass sie froh waren zu reden, froh waren, endlich gefragt zu werden, ernst genommen zu werden in ihrer Geschichte, die täglich mehr verschwand.
    Nicht einer, der sich weigerte, sich des Desasters zu erinnern.
    Ich sammelte. Details über Details. Der stotternde Rabbiner bei der Bar-Mizwa 1935 in der Synagoge Oranienburger Straße. Das Wetter in Birkenau im Winter 1942. Die Farbe des Essnapfs in Bergen-Belsen.
    Ich hätte die Interviews für die Shoah-Foundation nicht machen müssen. Ich weiß nicht, warum ich es tat. Vielleicht,um dem Grauen ein Gesicht zu geben, einen Namen. Genauigkeit, Detailwissen. Über ein Jahr fuhr ich in Berlin herum, von Schmargendorf zum Grunewald, von Wilmersdorf nach Moabit. Ich träumte davon. Ich schlief schlecht. Aber ich brauchte die Details, ich sammelte sie für später irgendwann, wer weiß.
    Ab und an schicken mir die Kinder und Enkelkinder Einladungen zu den Beerdigungen ihrer Eltern und Großeltern. Manchmal gehe ich hin. Schließlich weiß ich Dinge, die die Familien oft nicht wissen. Ich weiß von Demütigungen und Folterungen, von denen sie mir erzählt haben, zwischendurch, immer dann, wenn beim Interview die Kamera nicht lief. Sie wollten wenigstens als Helden sterben. Eigentlich hätten sie alle einen Ehrenplatz auf der Bar-Mizwa verdient.
    »In welcher Synagoge macht ihr Bar-Mizwa?« Diese Frage ist die Frage aller Fragen, so eine Art Lackmus-Test: Wie jüdisch bist du?
    Als man einen Juden nach vielen Jahren auf der einsamen Insel, wo er nach einem Seeunglück hingespült worden ist, findet, ist er sehr glücklich, endlich gerettet zu werden. Er führt seine Retter auf der Insel herum, auf der er zehn
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