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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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die 170. Zusage eintrifft, verschweige ich das vor dem Caterer, vor Georg, vor mir selbst. Die Kippot in Orange habe ich auf einen »heißen Tipp« hin über das Internet bestellt. Zweimal täglich schreibe ich dem anonymen Hersteller aus Kreuzberg, ob er auch wirklich pünktlich liefern wird. Geduldig antwortet dieser: »Natürlich, don’t worry, shalom!«
    Nach wie vor hat die Jüdische Gemeinde die Personalfrage mit dem Rabbiner nicht gelöst. Ab und zu amtieren Rabbiner zur Probe, die lispelnd, leise und stotternd ihren Weg durch den Gottesdienst suchen. Andere versteht man gut, was auch nicht unbedingt von Vorteil ist.
    Ich habe Kontakt zu einem bereits älteren Rabbiner in Augsburg aufgenommen, einem Freund meiner Eltern, der ein guter Redner ist, etwas zu sagen hat, sogar auf Deutsch. Eine seltene Mischung. Er ziert sich: der lange Anfahrtsweg, sein voller Terminkalender, die schlechte Bezahlung …
    Die schlechte Bezahlung?! Die Gemeinde hat mir versichert, die Kosten für den Rabbiner zu tragen, dazu sei sieverpflichtet – das scheint dem Rabbiner aber nicht auszureichen. Auch das noch! Wie bezahlt man einen Rabbiner? Einen Amtsträger, einen Heiligen, sozusagen Gottes verlängerten Arm: bar oder per Überweisung, in Naturalien oder nur mit Dank und Händedruck? Das ist doch immer die Aufgabe der Väter gewesen, mit dicken Umschlägen voller Geld an Rabbiner heranzutreten.
    Raffi ruft an. Er hat seine Einladung verloren und kann sich an den Termin der Bar-Mizwa nicht mehr erinnern. Er will aber unbedingt versuchen zu kommen.
    »Macht nichts, wenn du nicht kommst. Es kommen genügend andere!«, zische ich beleidigt.
    Das Handy klingelt wieder. Ruth sagt ab. »Maseltov! Von Herzen!« Aber sie sei mit 94 Jahren so müde, so schrecklich müde. Sie wünsche uns alles Gute, aber leider könne sie nicht zur Bar-Mizwa kommen. Es bleibt die einzige Absage. Schade, dass gerade sie nicht kommen kann. Ich betrachte sie als eine Verwandte, ohne sie je um Erlaubnis gefragt zu haben. Sie wird mir fehlen.
    Ruth habe ich bei meiner Arbeit für die Shoah-Foundation von Steven Spielberg 1996 kennengelernt. Ein riesiger Raum im Hotel Hyatt war angemietet worden. Drei Tage sollten wir geschult werden, Überlebende nach ihren Erlebnissen zu befragen.
    Die Schulung war perfekt durchorganisiert, schließlich sind drei Tage enorm knapp. Wir waren circa 100 Personen jeden Alters, jeder Religionszugehörigkeit. Trotzdem hatten es die Nichtjuden schwerer. Ihre Motivation wurde mehrfach überprüft, aus schlechtem Gewissen allein durfte keiner bleiben. Die Foundation hatte ein System ausgearbeitet, das wir möglichst zu befolgen hatten, damit weltweit alle Interviews vergleichbar und katalogisierbar wurden. Effektiv, unsentimental, ergiebig, aber nicht herzlos. Ist so etwas überhauptmöglich: Menschen, die durch die Hölle der Lager gegangen sind, gleichförmig auf Video zu pressen? Kritik wurde laut, einige stiegen unter Protest aus. Ich blieb. Ich wollte wissen – wissen, wie solche Interviews möglich waren, wissen, was mir die Menschen zu sagen hätten, wissen, welche ihrer Erinnerungen sie preisgeben könnten.
    »Auf dem Weg zu den Interviews schiebt alles beiseite. Nichts ist mehr wichtig, was euch, euren Alltag betrifft, es geht nur noch um die Person, die gefragt und gefilmt wird. Lasst euch Zeit. Lasst sie reden. Überprüft, was sie beim Vorinterview gesagt haben, was jetzt. Sie werden Dinge vergessen, bewusst auslassen. Wenn sie Zeiten, Orte verwechseln oder durcheinanderbringen, hakt nach, behutsam, eventuell auch mehrfach. Aber wenn sie nicht wollen oder können, lasst sie in Ruhe. Es sind ihre Erinnerungen, auch wenn sie ›ungenau‹ sind.«
    Auch meine Eltern haben Interviews für die Shoah-Foundation gegeben. Wenn ich mir die Videos heute anschaue, wirken ihre Erzählungen seltsam distanziert, als würden sie vom Leben von entfernten Verwandten oder Bekannten berichten. Aber sie erzählen viel und bereitwillig. Sie scheinen froh zu sein, dass man sie überhaupt fragt.
    Nach den Vorgesprächen ging ich in die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde. Sie ist ungeheuer gut ausgestattet. Ich las über den Transport der ungarischen Juden, der in einem merkwürdigen Zickzackkurs verlief, durchs ganze Land. Ich las Briefe von Kindern, die nach England verschifft wurden mit dem Kindertransport. Ich fand alles. Es gab immer wieder etwas, das ich so nicht gewusst hatte, die Rolle der Gemeinde, die Katalogisierung der Wäsche der
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