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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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Jahre alleine gelebt hat. Dem erstaunten Kapitän zeigt er zwei Synagogen, die er eigenhändig gebaut hat. »Wieso zwei?«, staunt der Mann. »Wo Sie doch alleine sind.«
    »Nun, das ist doch eine klare Sache«, sagt der Jude und zeigt auf die nähere Synagoge: »Das da ist meine Synagoge, in die andere gehe ich auf keinen Fall.«
    Berlin hat zehn Synagogen von orthodox bis schwer liberal. Für jeden etwas. In Mitte gibt es als Krönung eine übergetretene Protestantin als Rabbinerin, sie macht ihre Sache gar nicht so schlecht. Die Synagogen sind sich gegenseitig nicht grün, aber Konkurrenz belebt das Geschäft. Unsere Synagoge in Charlottenburg gilt als gemäßigt liberal: ImGottesdienst spielt eine Orgel, ein Chor singt. Ich mag Chor und Orgel nicht. So geht es schon einmal los. Da kann ich genauso gut in die Kirche gehen, spotte ich. Aber die Chance, eine interessante Predigt zu hören, ist dort am größten. Der große Kantor Estrongo Nachama hat schon dort gesungen, seine Stimme war legendär, ein weiterer Grund, dorthin zugehen. Außerdem wohnen wir nicht allzu weit weg. Zum Abschluss des Gottesdienstes werden die Kinder nach vorne zur Thora gerufen, sie beten den Kiddusch, bekommen einen Schluck Wein und eine Tafel Milka Vollmilchschokolade. Das hat über Jahre wesentlich zu Davids Liebe zu dieser Synagoge im Speziellen und zur Religion im Allgemeinen beigetragen.
    Als ich ihm andeute, dass ich mit dem Gedanken spiele, eventuell eine Synagoge mit amtierendem Rabbiner und vielleicht sogar ohne Chor und Orgel, sprich: eine andere Synagoge, zu wählen, ist er außer sich. Zähneknirschend gebe ich nach. Es bleibt bei der Charlottenburger.
    Der Ritus der Bar-Mizwa verlangt vom Knaben unter anderem das erstmalige Anlegen der ledernen Gebetsriemen, der sogenannten Tefillin am linken Arm und am Kopf. An ihnen ist eine kleine lederne Kapsel befestigt, die einen hebräischen Segensspruch enthält. Meine liberale Synagoge empfiehlt diesen Brauch, kann aber leider wochentags keinen Gottesdienst anbieten, um ihn zu praktizieren. Wer hat diese Regeln erfunden? Konsequenz scheint keine jüdische Erfindung zu sein. Ich merke, wie ich langsam, aber sicher beginne zu hyperventilieren: Was habe ich mit orthodoxen Riten zu tun? Bräuche, die ich jahrzehntelang verabscheut habe, holen mich auf den letzten Metern vor dem Ziel ein! Am Ende lasse ich mir noch die Haare schneiden und einen Schejtl verpassen. Aber wahrscheinlich würde das meine Künstlerszene auch noch hip finden. Ich krame die Tefillin meines Vaters hervor. Sie stecken in einem kleinen, samtenen Beutel. Das Leder istbrüchig und abgenutzt. Vielleicht hat sie mein Vater schon von seinem Vater und der wiederum von seinem.
    Davids Patenonkel Aron löst das Problem, er ist eine Kapazität im Umgang mit und Umgehen von jüdischen Regeln. Eine kleine orthodoxe Synagoge würde innerhalb ihres täglichen Gottesdienstes David zum ersten Mal die Tefillin anlegen. Wir müssten nachmittags um fünf Uhr zur Probe kommen, teilt er uns mit.
    Die Synagoge ist sehr klein. Sie liegt im vierten Stock eines Altbaus mit Blick auf ein Einkaufszentrum. Die Renovierungswelle, die das Kaufhaus gegenüber mitgemacht hat, hat hier nicht stattgefunden. David und ich betreten den Betraum. Kleine dunkelhaarige Männer huschen hin und her. Eine Frau sitzt hinter einer Gittervorrichtung und betet. Sie trägt eine Perücke und darüber eine Mütze. Nur einmal jüdisch reicht wohl nicht – aber da kommt auch schon der Rabbiner. Er begrüßt David herzlich. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, fragt er nach dem Gebetsschal.
    »Falls David orthodox wird, kaufe ich ihm einen.« Der schwache Witz prallt wirkungslos am Rabbiner und seinen Schläfenlocken ab.
    »Und die Riemen?«, fragt er kurz.
    »Hier!«, antworte ich schon kleinlauter und reiche ihm die alten Tefillin meines Vaters.
    Er prüft sie mit einem sehr kurzen Blick: »Nicht koscher!«, verkündet er und gibt sie mir zurück.
    Es ist doch erstaunlich: Diese Gebetsriemen haben viele Jahrzehnte überlebt, zwei Kriege, den Holocaust, sind vielleicht aus den Flammen irgendeines Pogroms gerettet worden. Diese Gebetsriemen sollen nicht koscher sein?
    »Sie sind von meinem Vater. Sie sind bestimmt koscher. Was sollen sie sonst sein?«
    Der Rabbiner schmunzelt, aber nur leicht: »Was sollen sie sonst sein? Unkoscher. Was wissen wir schon? Ist derSegensspruch so aufbewahrt, wie es sein sollte nach all den Jahren?«
    Wo ist das Problem?, denke ich,
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