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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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geredet, als gäbe es kein Morgen. Die pubertären Mädchen aus Davids Schule in ihren Abendgarderoben, die sie nur knapp ausfüllten. Die Jungs, schlaksig wie junge Fohlen hinter den Mädchen her. Meine Tante, wie immer hofiert von meinen Freunden. Und natürlich David, der auf einem Stuhl von schwitzenden Männern in die Luft gehoben wird.
    Das alles zeigen die Fotos, die vor mir liegen.
    Tanzende Paare in unscharfer Bewegung. David und die dreizehn Kerzen: Er bittet seine Eltern, eine Kerze anzuzünden. Seinen kleinen Bruder, seine Tante. Zu jedem sagt er einen kurzen Satz. Zu seiner westfälischen Oma und Familie,zu den Verwandten aus Israel, Kroatien und Amerika, zu seinem Patenonkel Aron, zu dem er in der Pubertät gehen wird, wenn wir schwierig werden, zu Freunden und Freundinnen. Die dreizehnte Kerze ist für sein neues Leben, das jetzt begonnen hat.
    Das alles zeigen mir die Fotos, die ich aufheben werde – auch wenn ich keine Tochter habe, die sie eines Tages finden wird.

[Menü]
    gießen an einem sonntag
    Mein Zug fährt durch Hessen, auf dem Heimweg von Bayern nach Berlin. Die Bar-Mizwa ist schon einige Wochen her, inzwischen habe ich den »Barbier von Sevilla« inszeniert, die Premiere war am Vorabend. Meistens nehme ich eine andere Strecke, ich bin überrascht, als die Landschaft plötzlich so vertraut wird. Durch Gießen fahren, ohne auszusteigen? Wehmut steigt in mir hoch, für Heimweh ist Gießen zu hässlich.
    Nächste Station: Frankfurt. Aussteigen oder nicht aussteigen? Bad Nauheim. Wenn ich nicht aussteige, werden meine Dibbuks mich tagelang aufsuchen.
    Wo warst du schon wieder so lange? Glaubst du, uns macht das Spaß? Das Grab, das Grab sieht so traurig aus. Wenn du uns hier nicht besuchst, grab uns doch aus und nimm uns mit auf den Berliner Friedhof.
    An einem Sonntagabend liegt die Anmut Gießens im Verborgenen, im sehr Verborgenen. Die Häuser vom Bahnhof bis zur Innenstadt sind heruntergekommen, leer, unheimlich. Ein paar Fördermittel West könnten wirklich nicht schaden. Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Schon bald stehe ich vor unserem Haus. Es ist das heruntergekommenste Haus der ganzen Gegend. Die Rollläden hängen schief, aus dem rechten Fenster unserer einstigen Wohnung leuchtet grünes Licht. Vielleicht halten sie sich dort Alligatoren, tröste ich mich.Im Erdgeschoss ist der Versuch eines Durchbruchs nun mit Brettern vernagelt. Das Eisentor ist ausgehängt. Mir kommt es vor, als ob ein unsichtbares Schild darüber schwebt: »Hier ruht die Wohnung Altaras 1966 – 2006«: Ein Jubiläum, und was für eins.
    Das war also das Leben meiner Eltern, das man ihnen zugestanden hat nach dem Krieg. Kein Wunder, dass sie von einem anderen Leben träumten, das gewesen wäre, wenn nicht … Wenn es nicht diesen Schnitt, diesen … Wenn, wenn. Was für eine Idee. Was sollen die sechs Millionen Toten dazu sagen? Wir wären noch am Leben – sonst nichts. Das würden sie sagen.
    Auf der kleinen Rasenfläche, dem »Oswaldsgarten«, ist ein Einkaufszentrum gebaut worden. Seine enorme Betonrückwand ist unserem Balkon zugewandt. Meine Mutter ist gerade rechtzeitig gestorben, um sich diesen trostlosen Anblick zu ersparen. Die Provinz hat ihre eigene Melancholie.
    Die Nummer Dr. Nicks, des »ersten Israeli« aus der Gemeinde, habe ich im Handy gespeichert. Er gehört zu diesem Abstecher nach Gießen. Also rufe ich ihn an. Er freut sich und weiß von zwei Jubiläen zu berichten: »Heute vor 49 Jahren kam ich nach Gießen. Aber an diesem Tag vor 50 Jahren ging ich in den Sinai-Feldzug! Wie die Zeit vergeht.«
    Ich frage, wie es geht, mit der Gemeinde und so weiter.
    »Im Allgemeinen gut, nur haben sie gestern den Vater von Mischa verprügelt.«
    »Einen Orthodoxen?«, frage ich.
    »Nein.«
    »Aber wie haben sie erkannt, dass er Jude ist?«
    »Das ist er ja gar nicht, aber sie haben es gedacht. Er ist nicht arg verletzt. Das kann schon mal passieren, aber schön ist das nicht.«
    »Nein, schön ist das nicht«, antworte ich.
    Der Nachtportier des Hotels Kübel gibt mir meinen Zimmerschlüssel. Er ist wohlauf, denn er arbeitet gerne hier. »Nur frustrierte Menschen werden krank«, flüstert er mir schmunzelnd zu.
    Wie recht er hat. Er ist klein, blass und vornehm. Ungar, k. u. k. Eigentlich unterscheidet er sich kaum vom Mobiliar des Hotels, das vor zwanzig Jahren noch das schickste der ganzen Stadt war. Auch mein Zimmer hat sich der Situation angepasst. Die Auslegware hat grüne und gelbe
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