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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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hielten wir uns im Schutz der Stadtmauern auf, ohne das Schloss aus den Augen zu verlieren. Später bogen wir in den Mincio ein, bis wir schließlich sogar den Ruderer baten, uns in das wilde und undurchdringliche Schilfgebiet zu bringen. Dort stiegen wir dann hin und wieder am
Ufer aus. Sobald Marietta ihre Bundhosen bis zu den Knien hochgekrempelt hatte, wateten wir mit bloßen Füßen ein paar Schritte auf das andere Ufer zu. Dabei wirbelten wir reichlich Sand auf, unter dem sich im Schlamm unsere Fußabdrücke abzeichneten - unauslöschlich. Ich musste auf einmal an die Insel denken, die ich nie gesehen habe. Gern hätte ich sämtliche Kleidung abgelegt und mich mit ihr ins Wasser gleiten lassen. Aber es war bereits Herbst und das Wasser zu kalt. Schon jetzt zitterten wir vor Kälte.«Das machen wir nächstes Jahr», versprach ich ihr. Marietta nickte, und wir starrten auf unser Spiegelbild im Wasser - zitternd, ungewiss. Ein Windstoß, und wir wären wie weggefegt.
    Ein anderes Mal drangen wir zu einer von dichtem Schilfrohr geschützten Lichtung vor. Dort breiteten wir eine Decke aus und beobachteten das Hin und Her der Reiher und Blässhühner, bis alles klamm wurde und sich dichter Nebel über den See gelegt hatte. Verschwunden waren die mächtigen Umrisse des Schlosses, die Türme und Dächer der Stadt und die Stimmen. Im Schutz vor neugierigen Blicken und unseren Verpflichtungen waren wir im Nebel uns selbst ausgeliefert. Von den Gesprächen, die wir in diesen endlos langen Tagen führten, sind mir nur einzelne Fetzen in Erinnerung geblieben, da sie wahrscheinlich eher nebensächlich waren. An alles andere kann ich mich gut erinnern: das Rascheln des Schilfs, der zarte Ruf der Regenpfeifer, das Surren der Insekten, der flatternde Flügelschlag der Wachteln, die Schüsse der Jäger, ihr vom Hut beschattetes, blasses Gesicht, die unter den geröteten Lidern funkelnden, grünen Augen, die in der Sonne ganz hell wurden, die mageren Hände auf ihrem Schoß. Es sind keine traurigen Erinnerungen, Herr, wenngleich sie - in jenen Tagen - zu sterben begann. Sie sind voller Licht, weil wir nicht die geringste Erwartung hatten - Sorgen, Ruhelosigkeit, Ehrsucht und selbst die Lust waren wie ausgelöscht. Da war einzig die Gewissheit, genau am richtigen Ort zu sein.
    In den ersten Monaten nahmen wir abends am höfischen Leben
teil. Selbst Venedig kann wohl nicht mit dem Reichtum von Mantua mithalten. Das Leben dort oben hatte etwas von einem Theater, war wie ein prunkvolles Märchen, ein endloser Traum. Jeden Tag ein anderes Ereignis. Ein Ball, eine Aufführung, ein Konzert oder ein Turnier, die Ankunft eines Botschafters, eine Geburt, ein Geburtstag oder einfach nur die Existenz eines Staates wie Mantua, der die Wirren eines für ganz Italien schwierigen Jahrhunderts überlebt und sich in eine Perle aus Anmut und Schönheit verwandelt hat. Mich amüsierten die verschwenderische Art meines Gastgebers und seine unstillbare, nahezu kindliche Lust auf Kunstwerke, neue Spiele und Musik. Und auf neue Frauen. Er sammelte Gespielinnen wie Gemälde. Möglicherweise hat er auch daran gedacht, meine Tochter in seine Sammlung aufzunehmen. Vielleicht hätten es auch alle anderen Könige und Herrscher, die sie als Zwanzigjährige an ihren Hof gerufen hatten, auf sie abgesehen. Anfangs lud der junge Herzog sie ein, ein Lied zum Besten zu geben - er wusste, dass sie vor langer Zeit in meinem Atelier für mich gesungen hatte: Damals sei Marietta achtzehn und eine spontane und gefühlvolle Interpretin gewesen, denn wenn die Liebesverse der Madrigale aus ihrem Mund erklangen, sei einem ein Schauer über den Rücken gelaufen. Das habe ihm Herzog Wilhelm erzählt.«Ich danke Euch sehr», erwiderte Marietta mit einem Lächeln,«aber so wie Ihr nicht jener Herzog seid, bin ich nicht mehr jene Frau.»
    Obschon ihre Worte wie eine Zurechtweisung klangen, besprach sich Marietta mit dem Lautenspieler und gab eine Woche später im Spiegelsaal ein Konzert. Jeden Freitag spielten dort die Musiker für den Hofstaat. Herzog Wilhelm, der die Musik lieber mochte als seinen Sohn, hatte den Saal erbauen lassen und sich eingebildet, der Welt nicht nur als Architekt und Restaurator des Dogenpalastes in Erinnerung zu bleiben, sondern auch als großer Komponist. Über dem Eingang in den Saal hing noch immer mein Bild mit den neun Musen. Wie die Natur sie geschaffen hatte,
saßen die jungen Frauen mit dem Rücken zu uns in einer idyllischen Landschaft und
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