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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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herauf. Auch das Wasser kann ich hören, wie es gegen das Ufer schwappt - die Flut beginnt zu steigen, jede Welle ein Atemzug. Die Schritte, Geräusche, Körper, Farben, die Verlockungen, sie waren das Leben und werden es bleiben - eine ewig währende, immer wiederkehrende Bewegung, Vorstoß und Rückzug, Flug und Fall. Und doch, Herr, lag es weder am Fieber noch am Schlafentzug. Du hast sie wie eine Legion Teufel auf mich losgeschickt, nur will ich sie nicht bekämpfen. Im Gegenteil, wiederfinden will ich sie.

17. Mai 1594
    Erster Fiebertag
    Mein Ende hat mit ihrer Rückkehr begonnen, es ging gar nicht anders, war sie doch der Gast, auf den ich gewartet habe. Sie ist gekommen, um mich zu holen, und ich, Herr - gleichwohl seit Jahren bereit -, habe gezaudert. Es begann, als ich den alten Schrank auf dem Dachboden öffnete und dieses rote Kleidungsstück in meinen Armen niedersank. Da bist du ja, mein Funke, wollte ich fast zu ihr sagen. Lach du nur, Herr. Sanft habe ich sie auf den Boden gelegt, mich hingekniet, ein Staubkörnchen von ihrem Ärmel gepustet und die Finger in den roten Samtzipfel gedrückt, als könnte der Stoff meine Liebkosung spüren. In jener Nacht habe ich - zum ersten Mal - keinen Schlaf mehr gefunden.
    Ich bin ausgestreckt auf dem Bett liegen geblieben, meine Lider wogen schwer auf den im Dunkel weit aufgerissenen Augen - im Mund, fest zwischen den Lippen, mein süßes Mittel gegen den Schmerz: das Stöckchen. Jedes Mal, wenn ich den Drang verspürte zu schreien, biss ich kräftig zu, bohrte die Zähne tief ins Holz. Den Geschmack habe ich noch immer im Mund. Der Schatten des Mondes wanderte über die Decke hinweg. Er war längst untergegangen, als mein guter Dominico aus dem Atelier heraufkam; die Treppe knarrte unter seinen Schritten, und die Tür quietschte in den Angeln, und ich hörte, wie er die Fensterblenden schloss. Die Diener in der Küche plauderten und lachten - gedämpft vernahm ich ihre Stimmen in der immer tiefer werdenden Stille des Hauses. Marco war noch nicht heimgekehrt. Er vertrieb sich wohl mit ein paar anderen Tagedieben beim Würfeln im Spielsaal die Zeit. Meine Frau hatte eine Weile wach im Bett gelegen und
auf ihn gewartet, bis schließlich auch sie aufgab und ihr Atem neben mir langsam und schwer wurde. Bis von der Sensa und vom Platz kein einziger Laut mehr einen Riss in die Hülle der Nacht machte.
    Nach und nach erloschen in den Häusern die Lichter. Adelige wie Arbeiter legten sich zur Ruhe, in seinem Marmorpalast der überaus berühmte Gasparo Falier und im grünen Haus gegenüber Piero, der Färber. Auch die Mäuse im Keller schliefen ein, die Tauben unterm Dach, die Schwalben auf dem First, die Katze am Ofen, die Flöhe im Schrank und selbst die Wanzen in der Matratze. Ebenso die Gemüsehändlerin vom Ponte dei Mori, die Tuchweber des Corte Cavallo, Angelo Schietti, mein Nachbar vom gegenüberliegenden Ufer, im Palazzo Cammello mein Rechtsanwalt Belloni und in ihren Klosterzellen die Mönche von Madonna dell’Orto. Und alle Nachbarn: Bootsführer, Kalfaterer, Wollhändler, Gemüsegärtner und Bootsschreiner. Außerdem meine Köchin, mein Diener Nastasio, die Malerin Donna Jacoma, die Brillenmacherin Zanetta von Ormesini und der Drucker Marco Liaba. Seine Druckerei grenzt an den Raum, der mir seit fast einem halben Jahrhundert als Werkstatt dient, die Höhle meiner Phantasie. Venedig versank im Schlaf - das ruhige Schnaufen des Wassers trug alle hinfort. Nur das Kreischen einiger Möwen, die auf dem Schornstein landeten, erfüllte die Nacht. Schließlich aber schwiegen auch die Vögel, und ich war allein mit mir selbst.
    Ich lauschte dem Odem des Wassers, Venedigs, meiner Frau und meinem eigenen, und während die Stunden in der nächtlichen Sanduhr scheinbar stecken geblieben waren, biss ich auf das Stöckchen und fragte mich, ob ich noch einmal die Möglichkeit bekäme, meinen Funken wiederzusehen. Nicht nur im trügerischen Land der Träume, in die sie mir, ohne sich auch nur zum Abschied umzudrehen, wie ein nebliger Schatten entgleitet. Jetzt, da ich wüsste, was ich täte, da ich keine Antwort fürchte, jetzt kann ich sie nichts mehr fragen. Diese Fragen werden zwischen
uns bleiben, uns voneinander trennen wie eine Mauer, die ich nicht zu bezwingen vermag.
     
    An diesem Morgen war ich auf, noch bevor die Glocke des Arsenals läutete. Schweißüberströmt wachte ich plötzlich mitten aus einem qualvollen Traum auf, in dem ich durch die engen Gassen des
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