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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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tropfenförmige Smaragde, um den Hals trug sie einen violetten Schal aus persischer Seide und am Finger einen Diamantring. Dieser Umhang, der Fächer, die Ohrringe, Schal und Ring hatten meiner Marietta gehört. Es war Zanetta, die Brillenmacherin von den Fondamenta Ormesini. Auch sie hat mich erkannt, doch ihre südländischen, dunklen Augen haben durch mich wie durch Glas hindurchgesehen. Sie tat so, als wüsste sie nicht, wer ich bin.
    «Was machst du da, Marietta?», fuhr sie das Kind an und zog es am Handgelenk vom Boden hoch. Das Kind klammerte sich um ihre Hüfte und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Herr, es kam mir so unerhört vor, es schien mir ein solch arger Verstoß gegen deine Gebote zu sein, dass diese Frau hier auftauchte und sich am Wohlergehen ihrer Familie ergötzte, während mein Funke nur noch ein einziger Haufen Lumpen in der Finsternis war. Wie lautet dein Plan, wo ist deine Gerechtigkeit? Du warst mein Gebieter und ich dein Instrument. Wie konntest du es wagen, die Liebe, die ich dir gab, mit Blut zu bezahlen? Die Brillenmacherin trug den Seidenumhang meiner Tochter, ihren veilchenblauen Schal, ihren Fächer und ihren Hochzeitsring. Das Kind hatte ihre Perlenohrringe, ihren Chalzedonanhänger - und ihren Namen. Es wollte mich seiner Mutter zeigen und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Brillenmacherin aber drehte stur den Kopf weg und zog das Mädchen hinter sich her. Marietta nahm all ihre Geheimnisse mit sich und ließ mir nur einzelne, unbedeutende Erinnerungsfetzen zurück, die ich nicht zusammenfügen kann, ohne sie zu verdrehen und durch meine Verblendung Unwahrheiten und Fehler hervorzubringen.
    Wie erstarrt stand ich mitten im Kirchenraum. Ich hoffte, der Organist würde kommen und spielen. Dann hätte ich mich auf eine Kirchenbank gesetzt und wieder beruhigt. Immer wieder stellte ich mir vor, dass mich, wenn ich nur dort zur Ruhe käme, wo auch Marietta war, unsere Musik zu ihr führen würde, und
dass ich einfach den Tönen folgen würde, in der Gewissheit, sie wiederzufinden - wo immer sie auch war. Beim Verlassen der Kirche gingen Zanetta und das Mädchen dicht an mir vorbei.«Auf Wiedersehen, Jacomo», sagte Marietta und winkte mir zu,«vielleicht ist dein Kind, das du verloren hast, auf dem Turm, es ist schön da oben, man kann ganz Venedig sehen, sogar die Berge und das Meer am Horizont.»«Auf Wiedersehen, Fünkchen.»Als sie an mir vorbeiging, konnte sie ihre Neugier nicht zurückhalten und streichelte mir mit ausgestreckter Hand über den Bart. Seit Jahren - vielleicht einer Ewigkeit - hatte niemand mehr meinen Bart gestreichelt.
    Erneut schaute ich zu dem Gemälde auf. Im Halbdunkel steigt die kleine Maria - zögerlich - die steilen Stufen zum Tempel hinauf, wo ein bärtiger Priester sie erwartet. Das Kind scheint sich seines besonderen Schicksals bewusst zu sein, das es verwundbar und glücklich zugleich macht. Dieses Kind trägt ihren Namen. Für Marietta malte ich dieses Bild. Meine Liebe für sie war schon immer grenzenlos, Herr.
     
    Meine Frau hatte den langen Mantel nicht gefunden. Ich durchwühlte sämtliche Kisten. Zwar wollte ich an jenem Tag tatsächlich Giovannis Beerdigung feierlich gedenken, doch sollte es niemand aus meiner Familie erfahren. Sobald meine Gemahlin den Namen Zuane hört, weint sie - sie nimmt sich ein Taschentuch und schnäuzt sich leise die Nase, weil sie weiß, dass ich dieses Geheule nicht ertrage. Giovanni hat es verdient, dass ich als hoher und von allen respektierter Staatsbürger an sein Grab trete. Er selbst wollte nie einer sein, diese Last hat er mir übertragen. Mehr konnte ich für meinen Sohn nicht tun. Ich kramte zwischen meinen Hemden, seidenbestickten Jäckchen und den Arbeitskitteln und wurde immer nervöser. Mein Diener Nastasio, der mir seit einigen Minuten gleichmütig über die Schultern schaute, riet mir, es in den Koffern und Schränken auf dem Dachboden zu probieren, wo ich nicht nur
die Festroben für immer und ewig verstaut hatte, sondern auch den Adelstalar und die langen Überröcke mit den weiten Ärmeln, die mir mein Schneider für meine aberwitzigen Auftritte angefertigt hatte und die ich seit Jahren nicht mehr trug.
    Und so schleppte ich mich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die steilen Stufen hinauf. Herr, im Laufe der Jahre hatte ich mir die Strategie der Vandalen angeeignet und alles, was von ihr erzählte, aus meinem Blickfeld geräumt. Ich habe die Schmuckstücke verteilt, die Partituren zerstört,
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