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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Sohn meint, das Alter sei das Einzige, das mir zu schaffen macht, und leider gebe es dafür kein Heilmittel. Ich hingegen fühle mich so kräftig wie an dem Tag, als mir zum ersten Mal bewusst wurde, ich selbst zu sein. Mein Körper mag müde, meine Knochen gebrechlich und mein Herz noch so abgehetzt sein, das aber, was sich nicht verändert hat und nicht verändern kann, ist mein innerstes Wesen, meine Identität, nennen wir es ruhig meine Seele, die nicht an die Zeit und ihre Launen gebunden und daher unzerstörbar ist. Lass Fieber mich befallen, Herr, entreiß mir alle Kraft, fessle mich ans Bett: Ich werde dich in wachem Zustand empfangen, mit jenem hellen, furchtbaren Geist, den du mir geschenkt hast. Verärgert hakte ich mich wieder aus.«Kümmre dich um deine Angelegenheiten», sagte ich zum wiederholten Male zu
Dominico,«und lass mich in Frieden, verschwinde.»In sich hinein lächelnd nahm mein guter Sohn schweigend die Zurechtweisung entgegen und gehorchte, wie immer.
     
    Zur Madonna dell’Orto gehe ich jeden Morgen. Diese Kirche ist meine Zuflucht, mein Museum: In der Kapelle und an den Wänden, in jedem Winkel habe ich eine Seite aus meinem Leben hinterlassen. Hier habe ich wie in ein Buch meine Geschichte niedergeschrieben. Zu dieser frühen Stunde hielten sich in der Kirche nur der Bäcker vom Campo dei Mori, der kniend eine Litanei betete, und ein Laienbruder vom Kloster nebenan auf, der mit einem Reisigbesen Staub fegte. Die Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen, zeichneten eine klare Linie auf den Boden - hier Licht, dort Schatten. Ach, wäre doch unsere Seele auch so klar und eindeutig, Herr. Könnte ich nur das Gute vom Bösen trennen, das, was ich getan, von dem, was ich erhalten habe. Aber leider ist es nicht so, leider gibt es nur einen einzigen, großen Strudel, in dem sich alles vermischt. So weiß ich nicht mehr, was richtig und was falsch gewesen ist.
    Die Sonnenstrahlen brachen sich an den Scheiben wie an einem Bollwerk und zersplitterten in einzelne grelle Lichtfetzen, die an den Wänden und auf dem Boden kleine Pirouetten drehten und mich blendeten. Als wüsste ich nicht mehr, wo sie stand, suchte ich nach der großen Orgel. Jeden Tag bin ich in diese Kirche gegangen, beinah dreißig Jahre lang. Und nun taperte ich einen Moment verwirrt im leeren Kirchenschiff umher. Meine Erinnerung an alles Naheliegende verschwimmt wie die dunkle Erinnerung an einen Traum im Nebel. Alles Vergangene erscheint mir näher als meine Gegenwart.
    Vor der schmutzig weißen Statue der Madonna dell’Orto verbrannte ein ganzer Wald von Kerzen und flehte stellvertretend um Gnade. Ich wollte gerade eine Altarkerze anzünden, als mich etwas ablenkte. Ein weißer Schatten huschte über mich hinweg.
Sich an der Treppe des Gerüsts festhaltend, das um einen Seitenaltar aufgebaut war, schwang sich ein kleines Mädchen durch die Luft. Es war vollständig in Weiß gekleidet.«Pass auf, mein Fünkchen», sagte ich zu ihm.«Wenn du fällst, tust du dir weh. Komm herunter.»Das Mädchen gehorchte, stellte seine kleinen Füße wieder auf festen Boden und kam zögernd herbei. Sie war etwa sieben Jahre alt, hatte kastanienbraunes Haar und dunkle Augen, wie eine Türkin.«Ich heiße nicht Fünkchen», sagte sie aufgebracht.«Nein? Wie denn?»«Ich heiße Marietta», antwortete sie ernst und klopfte sich den Kreidestaub vom Kleid. An ihrem Mund klebte noch ein Rest fettigen Schmalzgebäcks.«Marietta», seufzte ich,«mein Kind heißt auch Marietta.»
    «Du hast ein Kind?», rief sie ungläubig.«Du bist doch viel zu alt!» Alt . Das klingt fast wie ein Schimpfwort. Ich weigere mich, die Vorstellung zu akzeptieren, das geworden zu sein, wovor allen graust - ein mit hauchdünner, faltiger Haut überzogenes Skelett, ein Körper, dem jegliche Schönheit abhanden gekommen ist, ein abstoßendes Etwas, das niemand mehr ansehen mag. Obwohl ich stets die Alten geliebt habe. Ich mochte jene, die dem Tod in die Augen schauten, lieber als die, die das Leben noch vor sich hatten. Denn jene hatten es nicht mehr nötig zu lügen. Zumindest glaubte ich das.
    «Und wie heißt du?», fragte das Mädchen weiter, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, mich beleidigt zu haben. Sie trat näher. Neugierig betrachtete sie meinen stacheligen Bart und den schneeweißen Anhänger, der um meinen Hals baumelte.«Jacomo», antwortete ich.«Und weiter?», wollte sie wissen.«Meine Mama sagt, ich soll nicht mit Männern sprechen, die keinen
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