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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Fische sich im Strom treiben ließen, wollte das Geheimnis der Korkeiche, des Treibholzes und des Blattes entdecken. Doch vor allem wollte ich sie sehen: meinen Funken, Marietta, meine Seele. Ich öffnete den Mund, atmete tief ein und füllte meine Lungen mit Luft. Ich wurde leicht wie eine Seifenblase, wie die Luft, die aus dem Mund unweigerlich zum Licht aufsteigt.«Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen, Jacomo», sagte Marietta - und dann ließ auch ich mich von der Strömung treiben.
    In den Armen meines liebsten und unvollkommensten Sohnes schied ich aus dem Leben.

Exitus
    Die Sonne ist zum dritten Mal aufgegangen. Die Fenster stehen offen, es ist ein klarer Junimorgen. Mein Zimmer wird von Licht durchflutet. Auf dem Kanal ist Gemüsemarkt, die Boote ziehen Rillen in das stille Wasser und gleiten weit über den Ruderschlag hinaus. Die Flut hat ihren höchsten Punkt erreicht und zieht sich allmählich ins offene Meer zurück. Pfirsichschalen, Melonenkerne, altes Papier, ertrunkene Mäuse, alles Tote nimmt sie mit sich - auch mich. Die Fackeln sind erloschen, die Tränen getrocknet, am Ufer stehen Menschenmassen, die wie ein bunter, schreiender Fluss auf der einen Seite den Platz verstellen, sich über die Brücken schlängeln und auf der anderen Seite unter den Häuserfenstern auf den Fondamenta entlangziehen, den Steg über die Sensa überqueren, sich in die enge Gasse gegenüber drängen und bei der Misericordia und den Ormesini zusammenlaufen, bis man sie aus dem Blick verliert. Und überall Banner und Standarten, Fackeln, Kerzen und Blumengirlanden. Ich glaube, sie sind meinetwegen gekommen, aber das ist unwichtig. Das Leben läuft weiter wie immer. Es ist dieses Durcheinander, die Stimmen der Verbliebenen, die wertvollen Dinge, die tagtäglich oder nur einmal oder auch nie geschehen, der öffentliche Ruhm und das unbemerkte Scheitern, die Eroberungen und die Fehltritte, die erhabenen Mysterien und die gemeinen Dummheiten, die Fülle und die Leere, der Traum und das Erwachen, die Unendlichkeit und das Nichts, die Finsternis, die uns auslöscht, und das Licht, das uns ruft - dieser Geruch nach Wein und frisch gebackenem Brot, nach Wachs und Holz, nach Wasser und der Lagune. Aber ich habe weder Hunger noch
Durst. Die Schmerzen sind zusammen mit meiner Sehnsucht, Anspannung und Ruhelosigkeit von mir gewichen. Endlich kann ich gehen. Die Reise ist vorüber, die drei Königreiche habe ich durchquert, ihr könnt das Feuer nun anzünden.

Venedig zur Zeit Tintorettos
    ① Campo San Cassiano. In einem Dokument aus dem Jahr 1539 wird zum ersten Mal erwähnt, dass Tintoretto ein Maler mit Wohnsitz an ② diesem Platz war. Haus Tintorettos an der Fondamenta dei Mori. Hierher zog der Maler nach ein paar Ehejahren mit seiner ständig wachsenden Familie. ③Madonna dell’ Orto. Hier liegt Tintoretto begraben. ④ Scuola di San Rocco. Ab 1565 lieferte Tintoretto gewaltige Wand- und Deckengemälde für die Kirche, den Kapitelsaal und die Erdgeschosshalle der Scuola. ⑤ Dogenpalast, das Kernstück der architektonischen Selbstdarstellung Venedigs. Nach einem Brand im Jahre 1577 ging der wichtigste Auftrag im Rahmen der

    Neuausstattung an Tintoretto. ⑥ San Giorgio di Maggiore. Für die Klosterkirche übernahm Tintoretto mit seinen Gehilfen die gesamte Bildausstattung. Hier hängt«Das letzte Abendmahl». ⑦ Campo San Giacomo dell’ Orio. Hierher zog Marietta und ihr Ehemann Marco Augusta nach dem Zerwürfnis mit dem Vater. ⑧ Kloster Sant’ Anna. In dieses Kloster steckte Tintoretto seine vier Töchter aus der Ehe mit Faustina. ⑨ Wohnhaus von Tintorettos Geliebten Andriana, die sich zu Tintorettos Entrüstung gelegentlich La Tintoretta nannte. Denn dieser Name gebührte eigentlich seiner Lieblingstochter Marietta, der Malerin La Tintoretta.

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
«La lunga attesa dell’ angelo»bei Rizzoli, Mailand.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    1. Auflage
    Copyright © der Originalausgabe 2008 by RCS Libri, S.p.A., Milano
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe München GmbH
     
    Gesetzt aus der Baskerville von Greiner & Reichel, Köln
     
    eISBN 978-3-641-04841-9
     
     
    www.knaus-verlag.de
    www.randomhouse.de
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