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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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schlecht», warf mir Faustina vor,«merkst du das etwa nicht? Du musst sie auf der Stelle nach Venedig zurückbringen. Wir lassen sie von den besten Ärzten der Stadt untersuchen, Flangini, Amalteo, Julio Fonte, Fabio Glissenti, von wem du willst. Du kannst nicht einfach hierbleiben und so tun, als wäre nichts. Das ist eine Sünde, Jacomo.»Ich erwiderte, dass ich ihr dieses Mal die Entscheidung selbst überlassen und mich ihrem Entschluss beugen würde. Wenn sie gehen wolle, würde ich sie nach Hause bringen. Wolle sie bleiben, bliebe auch ich.
    Zwanzig Tage später fuhr Faustina allein zurück. Sie fragte Marietta, ob sie ihr einen Brief für Marco Augusta mitgeben wolle.«Ich weiß nicht, was ich ihm schreiben soll», antwortete sie.«Sag du ihm, er möge mir verzeihen.»Fast täglich brachte uns der Kurier Post. Von ihrem Gatten, Dominico, ihren Freundinnen, ihren Kunden und auch von Zanetta. Schon seit geraumer Zeit verkehrte Marietta nicht mehr mit ihr, obgleich es nach der Geburt ihres Kindes für Marietta nichts anderes mehr gegeben hatte - keine Bilder, Pinsel oder Farben, sogar sie selbst nicht mehr. Es existierte nur noch das Kind, sein Schlaf, sein Weinen, die Milch, die Koliken, das Bäuerchen, das erste Lächeln, der erste Zahn. Trotzdem schrieb ihr die Brillenmacherin unermüdlich Briefe, die Marietta nicht einmal las. Einige Siegel blieben unberührt. Die Frau hatte eine krakelige, unsichere Schrift und gewiss keine Bildung. Dennoch tat sie so, als ob, gehörte sie doch zu jenen, die sich nicht ihrem Schicksal fügen wollen, sondern es
zu ändern suchen - mit allen Mitteln. Das wusste ich. Seitenweise Wortgeflechte. Gern hätte ich sie gelesen. Gewusst, welche Worte sie für meinen Funken gewählt und welche Rolle sie in ihrem Leben gespielt hat. Aber dazu hatte ich kein Recht. Ich verbrannte sie eigenhändig im Kamin, da ich vielleicht irgendwann doch schwach geworden wäre. Am Ende hatte ich gelernt, Mariettas Geheimnisse zu achten - wie auch alles andere, was sie vor mir bewahren wollte.
    Als ich mit dem Schürhaken in der Glut stocherte, flog mir ein Fetzen Papier zwischen die Finger.« Meine Liebe, die Behandlung muss in der Seele beginnen, und du wirst sehen, wie der Körper wieder zu Kräften kommt .»Marietta verweilte am Schreibtisch, wo sie hin und wieder mit ihrer hohen, unbeholfenen und nach rechts geneigten Handschrift, die wellenförmig über die Zeilen hinwegglitt, Briefe beantwortete - immer häufiger ließ sie jedoch die Tinte an der Feder eintrocknen und starrte aus dem Fenster auf den von einer dünnen Eisschicht bedeckten See und die grelle, weiße Ebene.
    Vielleicht habe ich Mantua nie verlassen. Vielleicht hocke ich noch immer in den zugigen Gemächern vor dem Kamin. Die gefalteten Hände auf der Decke, ihr Kopf an meiner Schulter. Dorthin will ich zurück. In diesen von allem enthobenen Momenten lebte ich bis ins Unermessliche. Da war ich vollends da, Herr. Und das wusste sie, mehr nicht.
    Als es Frühling wurde, war sie nicht mehr in der Lage, in den Schilfgebieten umherzustreifen. Wir fuhren zwar noch mit dem Boot auf den See hinaus, gingen aber nicht mehr an Land. Der Bootsführer ruderte uns so weit hinaus, bis das Ufer im Dunst verschwand, und warf den Anker - in der Nähe einer kleinen Sandinsel mit einer großen Weide -, wo wir bis zur Dunkelheit verweilten.« Wohl dem, der ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist», sagte sie einmal leise zu mir,« der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken.
Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen. »Dieser Baum erinnere sie an mich. All diese Schönheit rühre sie zu Tränen.
    Faustina hat mich hin und wieder gefragt, warum ich es nicht zu verhindern gewusst habe. In Wirklichkeit stellte sie sich diese Frage selbst - weil auch sie es nicht geschafft hat, Zuane zurückzuhalten. In dieser Gewissheit waren wir vereint, als alles zusammenbrach. Wir umklammerten die Leere, die sie tief in uns hineingegraben haben, und achteten den durchdringenden Schmerz des anderen. Es war weder Platz für Vorwürfe noch für Beileid. Am Ende sind wir wahrhafte Verbündete und Gefährten geworden. Aber dafür mussten wir sie erst verlieren, Faustina und ich.
    Doch es stimmt nicht, dass ich nicht versucht habe, sie daran zu hindern, Herr, das hätte ich mir nie verzeihen können. Aber es gab nichts mehr, worauf Marietta Lust hatte. Nicht einmal auf Musik. Und auf die Malerei am allerwenigsten.«Ich habe sie
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