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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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spielten Musik. Ihre Nacktheit war Teil der kosmischen Harmonie - vollkommene Schönheit.
    In Mantua hielten sich Europas beste Musiker auf. Jede andere hätte sich geweigert, vor einer aus so vielen Kennern bestehenden Zuhörerschaft aufzutreten, aber Marietta hatte weder im Alter von achtzehn Jahren noch später Angst. Sie machte vor dem Herzog einen Knicks, lächelte mich an und begann zu singen - mit äußerster Sanftmut. Von den Spiegeln entlang der Wände wurde ihr Körper bis ins Unendliche zurückgeworfen. Um mich herum vervielfachte sich Marietta zu einer, neun, eintausend Mariettas, die mich umzingelten und anlächelten, wie im Traum. Kosmische Harmonie, vollkommene Schönheit.
    Der Applaus nahm kein Ende, die Zuhörer waren gerührt und begeistert. Mit der gleichen Hingabe trug sie noch weitere Male ihre Lieder vor. Ihre und meine Lieblingsmadrigale, die ich ihr vor langer Zeit beigebracht hatte. Darunter das traurige und schwermütige Lied Du sanfter, willkommener Tod . Und auch Leben meines Lebens . Während sie sang, schaute sie starr vor sich hin und nahm in den Spiegeln offenbar weder sich selbst noch uns wahr. Ihre Stimme war hauchdünn wie Glas geworden - und eines Abends zerbrach sie plötzlich. Die Musik hielt inne. Im Saal herrschte tiefes Schweigen. Beinahe einhundert Menschen waren anwesend: Keiner sagte ein Wort, alle hielten die Luft an und hofften, sie würde weitersingen. Aber das tat Marietta nicht. Sie klappte die Noten zu und setzte sich neben mich. Sie sang nie wieder.
    Man stellte uns keine Fragen. Wir gingen in die düstere Basilika des Palastes und hörten uns geistliche Musik an - achtstimmige sakrale Motetten stiegen in das hohe Gewölbe der Kirche auf. In der hintersten Reihe des Spiegelsaals lauschten wir hingegen weltlicher Musik - umringt von Jacomo und Marietta, Marietta und Jacomo -, während die fünf Stimmen der Madrigale einander
hinterhereilten, ohne je zueinanderzufinden. Wir blieben bis spät in die Nacht auf. Die Possen der Hofnarren und die Zoten der Schausteller trieben uns vor Lachen Tränen in die Augen. Am Karnevalsabend haben wir sogar getanzt. Verkleidet waren wir allerdings nicht. Marietta trug das rote Samtkleid mit der goldenen Schnürung. Wie eine Flamme stach sie aus dem Ballsaal heraus. Die Herrschaften beendeten ihren Abend mit dem Fackeltanz. Als jedoch Marietta an der Reihe war, reichte sie die Fackel umgehend an einen Botschafter weiter, forderte mich, der ich abseits an der Wand lehnte, zum Tanz auf und weigerte sich fortan, den Tanzpartner zu wechseln. Mit meinen morschen Gelenken und eingerosteten Knien führte ich sie in die Mitte des Saals, wo wir noch tanzten, als das Spiel längst beendet war und alle anderen sich zurückgezogen hatten - so lange, bis die letzte Kerze niedergebrannt war. Marietta war am Ende federleicht, Herr - in meinen Armen fühlte sie sich wie Wind an. Ich wusste, dass sie mir immer mehr entglitt, dennoch versuchte ich sie zu halten. Aber sie entschwand mit der Musik, die in den Sälen verwehte und zum Fenster hinaushallte, ins Dunkel der Nacht.
    Meine Frau kam mich nur einmal Anfang Januar besuchen. Unsere Abwesenheit hatte sich über Gebühr hinausgezogen. Sie fand uns im Schlosspark, wo wir uns, nachdem es drei Tage lang geschneit hatte, in die Sonne auf eine Bank gesetzt hatten. Um uns herum hatten die Söhne der Hofadeligen eine stürmische Schneeballschlacht eröffnet. Marietta begrüßte sie zwar mit ausnehmender Herzlichkeit, für die Neuigkeiten von zu Hause konnte sie jedoch nur wenig Beachtung aufbringen. Gedankenverloren nahm sie die lieben Grüße von Ottavia, Laura und den Mädchen im Kloster entgegen, die alle Sehnsucht nach ihr hätten; Dominicos und Marcos Aufforderung, sofort heimzukehren und sich an die Arbeit zu machen, denn sie solle ja nicht vergessen, wer sie sei, und der Welt ihre Bilder vorenthalten, ließ sie lächeln. Hastig überflog sie die Briefe ihres Gemahls aus Venedig: Der Juwelier
war aus Deutschland zurück und erwartete sie. Mir erzählte Faustina, Marco Augusta überlasse Marietta die Wahl, nach Augsburg oder auch nach Prag zu ziehen, wo er sie mit dem Kaiser bekanntmachen könne, oder aber auf die Fondamenta dei Mori, also zu mir, zurückzugehen - wenn das ihr Wille sei. Er sei zu allem bereit, solange sie nur zurückkomme. Marietta aber setzte ihre getönte Brille wieder auf, ließ die Briefe im Muff verschwinden und beobachtete weiter die im Schnee tobenden Kinder.
    «Es geht ihr sehr
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