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Blutiges Echo (German Edition)

Blutiges Echo (German Edition)

Titel: Blutiges Echo (German Edition)
Autoren: Joe R. Lansdale
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Kapitel 2
    Die Wohnzimmerfenster waren so angeordnet, dass Harry wie durch das Facettenauge einer Biene hinausschaute. Mit seinen sechs Jahren wusste er zwar nichts über das Facettenauge der Biene, aber es gefiel ihm, wie die Welt durch diese Fenster aussah.
    Das Haus stand auf einem Hügel in East Texas, die blauen Vorhänge waren zurückgezogen, und die zahlreichen großen Fenster erstreckten sich von einer Zimmerecke bis zur anderen. Von dort oben sah er die Straße, dahinter ein Honkytonk – die typische rustikale Countrykneipe – und dann den Highway und ein Autokino, das von einem glänzenden Wellblechzaun eingefasst war.
    Ein Wunderland.
    Stellten die Fenster die Augen einer Biene dar, so waren es allerdings trübe Augen, denn eine feine Staubschicht überzog sie wie Talkumpuder einen Babypopo. Anfangs hatten seine Eltern die Fenster regelmäßig geputzt, doch die vorbeifahrenden Autos wirbelten auf der Straße vor dem Haus immer wieder den Sand auf, also war das eine Sisyphusarbeit. Inzwischen machten sie sich nur noch gelegentlich die Mühe, ansonsten ließen sie es einfach bleiben.
    Ein Wunderland hinter einer Staubschicht.
    Auch auf der Westseite des Zimmers gab es solche Fenster, aber sie verliefen nur bis zur Hälfte der Wand und waren weniger staubig. Die restliche Wand war schmutzig weiß gestrichen; die Fenster auf der Westseite gingen auf einen Schrottplatz hinaus und auf den Wald dahinter, und Harry fand, dass die Autos nachts wie die Käfer aussahen, die über die Badezimmerfliesen krabbelten, wenn er das Licht einschaltete. Nur größer. Viel größer. Riesige, rostige, buckelige Käfer, die in extremer Zeitlupe auf den Schutz der Bäume zukrochen. Oder zumindest tat Harry gerne so, auch wenn er wusste, dass es Autos waren, für immer erstarrte Autoleichen.
    Dabei sahen sie dem Wagen seines Vaters überhaupt nicht ähnlich, genauso wenig wie den Autos auf der Straße. Tagsüber waren sie rot vor Rost und lagen fast auf dem Erdboden auf, denn die Reifen waren schon längst platt oder geklaut. Tagsüber sahen sie einfach nur müde aus.
    Dass die Wagen aus der Zeit um 1950 herum stammten, konnte Harry nicht wissen. Das jüngste Modell war Baujahr 1959. Es hatte mehr gelitten als die anderen, und die Windschutzscheibe war bei einem Unfall zerborsten.
    Harry hatte von alldem keine Ahnung, kannte sich auch nicht mit den verschiedenen Automodellen aus. Sie gehörten einfach mit zu seinem Wunderland.
    Das Haus selbst flößte Harry ebenfalls Ehrfurcht ein.
    Es war groß und früher einmal sehr hübsch gewesen, doch damit war es jetzt vorbei. Sonst hätten er und seine Eltern dort auch gar nicht gewohnt.
    Wie sein Vater zu sagen pflegte: »Wenn Scheißen einen Nickel kosten würde, müssten wir kotzen.«
    Trotzdem besaß das Haus noch einen gewissen Stil. Es war recht groß, und eine breite Veranda verlief von der Eingangstür bis zur Ecke und dann wie ein L an der Seitenmauer entlang. Dort führte sie zu einer Treppe, die genauso aussah wie die an der Eingangstür. Beide Treppen hatten Schlagseite, sodass man sich auf ihnen immer leicht steuerbord halten musste, um sie zu erklimmen.
    Bei starkem Wind erzitterte das Dach, senkte sich noch ein Stück tiefer und hing über der Veranda wie ein alter Schlapphut. Die Rückwand des Hauses hatte einen Teil ihrer Standfestigkeit eingebüßt, da die Steine in einen Erdhörnchenbau abgesackt waren. In der Küche gab es kein fließend Wasser, nur einen Schlauch, der von draußen durchs Fenster zum Spülbecken führte. Und in einer Ecke stand ein alter Holzofen, der wohl ungefähr zu der Zeit, als Eisenhower seine Uniform eingemottet hatte, auf Gas umgestellt worden war.
    Harry war das alles einerlei. Armut war ihm kein Begriff. Er war sechs Jahre alt, und allem wohnte ein Zauber inne. In diesem großen alten Haus war er daheim, und es war ein tolles Haus.
    Vor allem die Fenster.
    An dem Tag, als alles anfing, war Harry krank. Es war ein Samstag, und das war echt blöd. An einem Samstag wollte keiner krank werden. Den ganzen Tag lag er mit hohem Fieber im Bett und schlief, wie ein Braten in der Röhre. Irgendwann wachte er plötzlich auf und war gar nicht mehr so verschwitzt, sondern energiegeladen und gelangweilt. Vor allem aber sauer, weil er die Zeichentricksendungen am Vormittag verpasst hatte. Schlimmer noch, es war bereits Nacht.
    Morgen, dachte er, würde er auf den Apfelbaum hinterm Haus klettern und wieder Raumschiff spielen. Mit Raumschiffen kannte er
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