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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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die Augen auflässt, kannst du die Flut sehen, wie sie Richtung Venedig strömt, die Fische, die im Sog des unsichtbaren Flusses treiben, und den wie Pulver aufwirbelnden Sand - auch die Geräusche und entferntesten Stimmen folgen dem Lauf des Wassers und erschlagen dich fast. Das lauteste Geräusch, das steigt und steigt, bis es zu einem Metronom der Zeit wird, das erkennst du allerdings erst, wenn du wieder auftauchst und schweigst, denn das ist dein Herzschlag. Ob man sich so auf dem Mond fühlt oder in der eigenen Seele, wie Marco behauptet, weiß ich nicht, auf jeden Fall ist es traumhaft. Das Geheimnis ist, sich nicht mit den Füßen abzustützen, nicht die Atemluft zurückzuhalten, nicht zu versuchen, nach oben zu kommen oder Körper, Wille und Gedanken zu kontrollieren, sondern sich gehenzulassen, sich wie eine Korkeiche, wie Treibholz oder ein Blatt treiben und vom Strom mitreißen zu lassen.»
    «Warum nimmst du mich nicht einmal mit?», fragte ich sie.«Weil du Angst vor dem Wasser hast», erwiderte sie. Aber das war nicht der eigentliche Grund.«Nichts lieber als das», flüsterte sie,«aber das kann ich nicht machen.»

    Marco nahm meine Hände und bedeckte sie mit Küssen. So viel wollte mein Sohn mir sagen - aber kein Wort kam über seine Lippen. Er stammelte Zusammenhangloses und konnte letztendlich nur weinen. Auch ich hätte ihm noch so viel sagen müssen, aber auch ich schaffte es nicht. Besser so, ich will nicht mit einer Predigt enden, zumal ich nie Predigten gehalten habe. Sein Lockenkopf ruhte in meinen Händen wie auf einem Tablett. Seine Haare waren hart, borstig und mit einer Salzkruste überzogen. Auch an seinen Schläfen hing salziger Grind. Grobe, körnige Dinger, die mir - aus irgendeinem Grund - auf einmal unendlich lieb und teuer wurden. Ich wollte ihn nicht mehr gehen lassen.
    Ich konnte Marco nicht sehen, wie er auf dem Boden kauerte und sich wie eine Katze an mich schmiegte - klar und deutlich sah ich aber die Insel, auf der ich nie gewesen bin, am äußersten Ende der Lagune, den Strand, der mal da ist und mal nicht, den Schatten des Baums, dessen Laub nie verwelkt, den von der Flut geriefelten Sand und das ans Ufer gezogene Ruderboot. Als wäre ich stundenlang gerudert, taten mir auf einmal die Arme weh. Das Wasser sah einladend aus, war dicht und rot wie Blut, wie in meinem letzten Traum. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und Strümpfen. Der Sand kühlte allmählich ab, und mich durchfuhr ein Kälteschauer. Am Strand lagen Zweige, Treibholz und herangespülte Muscheln herum. Einige Formen hatte ich noch nie gesehen. Ich zog mir Jacke, Hemd und Hosen aus. Jemand fasste mich an der Schulter.«Dreh dich um», sagte die Person, deren Stimme ich sofort erkannte.
    Ich war überrascht, denn ich hatte sie nicht mehr erwartet.«Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen!», rief ich.«Ich bin hier», sagte Marietta,«aber du darfst mich nicht anschauen. Dreh dich um.»Ich sah, wie ihr Jäckchen mit den goldenen Knöpfen, ihre Bluse und die scharlachroten Bundhosen in den Sand fielen. Dem ungeheuren Drang, mich umzudrehen, konnte ich nur mit Mühe widerstehen, doch ich wusste, dass sie sonst verschwunden wäre.
«Wo bist du?», fragte ich erneut.«Wo soll ich schon sein? Ich bin ganz nah bei dir, Jacomo», antwortete sie. Und da spürte ich, wie ein riesiges Glücksgefühl durch mich hindurchströmte.
     
    Ich brachte sie nach Mantua. Faustina hatte mir dazu geraten, und ich weiß, was sie dies gekostet hat. Denn meine Frau erinnerte sich mit großer Sehnsucht an die weit zurückliegenden Tage, als wir da oben die Scherben unserer Ehe wieder zusammensetzten und mit neuem Faden die verschlissene Leinwand stopften. Während der Mußestunden von Mantua, der Abende bei Hof und im Theater, dank der Narren, Turniere, der Musik und des Abstands von zu Hause und den Kindern hatten wir damals wieder zueinandergefunden. Seit Jahren lag mir Faustina in den Ohren, wann wir endlich der Einladung des neuen Herzogs Vincenzo von Mantua, Sohn meines buckeligen Mäzens, folgen und wieder einmal einen Monat dort oben verbringen würden. Das hatte ich immer vor mir her geschoben. Ich wollte nicht weg von Venedig - nicht weg von ihr.
    Zum großen Erstaunen unserer Nachbarn hatte sich Herzog Wilhelm häufig auf den Fondamenta dei Mori blicken lassen, wo er es sich manchmal stundenlang in meinem Atelier bequem machte. Er sagte, er schätze die Unterhaltungen mit mir mehr als meine Bilder, denn er sei überzeugt davon
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