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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Meinung geändert habe und nicht will, dass Ottavia und Laura ins Kloster gehen. Ich will, dass sie niemals aufhören, den Geruch dieses Kanals einzuatmen, über Venedigs Brücken zu gehen und die Sonne zu genießen, an meiner Stelle. Aber mein Mund ist wie versiegelt.
    Der arme Schila ist derart traurig, dass Dominico ihm erlaubt hat, sich von mir zu verabschieden.«Maestro», stammelt Nastasio,«geliebter Maestro, wenn ich noch irgendetwas für Euch tun kann, so befehlt es mir, ich bitte Euch.»Ich hätte mich gern bei ihm entschuldigt, da mir seine Anwesenheit in diesen fünfzig Jahren große Erleichterung gebracht hat - seine winzige Statur ließ mich zu einem Riesen heranwachsen. Seine Verkrüppelung war meiner verletzten Eitelkeit ein Trost, gaukelte sie mir doch vor, so groß wie der Baum am Wasserbach aus dem Psalm zu sein. Ich mache mir Vorwürfe und schäme mich, so etwas Gemeines und Verwerfliches gedacht zu haben. Mein Diener fühlte sich allerdings nie gekränkt. Im Gegenteil. Ich sei, so versicherte er mir, der einzige Herr, der ihm nicht das Gefühl gegeben habe, eine Jahrmarktfigur oder ein Monster zu sein - sondern ein Mann. Denn für mich seien alle gleich - Könige und Fährleute, die Barone von Ficenga und die Pestkranken aus dem Lazarett, Apostel und Diener, Frauen und Männer, Alte und Kinder, Engel und Zwerge, Christus und Pilatus, Luzifer und Gott. Für alle hätte ich mich interessiert, alle hätte ich mit der gleichen Leidenschaft anzuschauen und zu malen vermocht.
    Dominico rennt unentwegt um mein Bett herum, zupft mein Kissen zurecht, gibt den Dienstmädchen Anweisungen, öffnet und schließt die Fensterläden und sieht nach, ob noch ausreichend aromatische Kräuter, um die ich gebeten hatte, im Feuer der Fackeln verbrennen - Aloe, Myrrhe, Kolophonium und Pinienharz. Er regelt die Prozession der Priester mit dem Weihrauchgefäß, dem heiligen Öl und den Kreuzen und ermahnt sie, sich mit den Sakramenten
zu beeilen, da meine Zeit in der Sanduhr nur noch so breit wie ein Fingernagel sei. Sie halten mir das Evangelium und Faustinas kaltes Kreuz aus Obsidian zum Küssen vor das Gesicht. Erleichtert atmen alle auf, als nichts schiefgelaufen und das Ritual abgeschlossen ist.«Mit den Tröstungen des Glaubens», sagt eine unbekannte Stimme.«Seelenruhig ist er eingeschlafen», bemerkt eine andere. Dominico ermuntert seine Mutter, umarmt die Schwestern und setzt sich wieder auf die Bettkante. Ich weiß, dass er aussieht, als wäre er in den vergangenen zwei Wochen um zwanzig Jahre gealtert - an den Schläfen sprießen weiße Härchen. Ehrfurchtsvoll bietet Nastasio ihm, dem Maestro, seine Dienste an. Er hat bereits meinen Platz eingenommen.
    Auch Marco ist da. Einer von ihnen muss ihn suchen gegangen sein. Oder mein aufsässiger Sohn ist von allein heimgekehrt, hat den Weg gefunden, den sein Bruder Giovanni nicht zu sehen vermochte. Seine Rückkehr hat für ziemlichen Lärm gesorgt - lautes Weinen seiner Mutter, grelle Schreie seiner Schwestern, immer hitziger werdendes Gerede. Ich habe ihn lebhaft mit Dominico streiten hören, der ihn nicht ins Zimmer lassen wollte, war er sich doch sicher, dass ich ihn nicht sehen wolle, seine Anwesenheit mich nur unnötig aufwühle, zu sehr habe er mir bereits wehgetan, dass er mich nun in Frieden sterben lassen solle. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wären handgreiflich geworden. Ich hörte, wie Faustina ihn fragte, wohin er abgehauen sei, und dass er«nirgendwohin»erwiderte, da es auf dieser Erde keinen Ort gebe, nicht einmal jenseits des Ozeans, wo er nicht den Eindruck habe, auf der Flucht zu sein. Aber da dies der Ort sei, vor dem er fliehe, brauche er mehr Mut zu bleiben als auf ein Schiff zu gehen und nach Indien oder Amerika zu fahren. Wenn sie ihm erlaubten, mich wiederzusehen, werde er gewiss seinen Lebensmut wiederfinden.
    «Willst du, dass ich ihn wegschicke, Papa?», fragte mich Dominico. Ich hatte keine Stimme mehr. Sie ist weg, irgendwohin verschwunden
wie meine Beine, Hände, Augenlider, mein ganzer Körper. Während ich weiter auf die dunklen Wände starrte, rief Marco:«Er hat nicht Ja gesagt! Sieh ihn dir doch an, er rührt sich nicht; wenn er wollte, hätte er schon seine letzte Kraft aufgebracht und mich fortgejagt. Das war es doch, was wir alle erwartet haben. Dass mein Vater sich aufrichtet und mir ins Gesicht spuckt.»Da trat Dominico zur Seite und ließ ihn herein. Marco lehnte einen Gegenstand an den Pfeiler des Baldachins.«Ich
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