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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Nachnamen haben, die seien nämlich arm.»Ich lächelte. Ihre Mutter wusste, mit wem man Geschäfte machte. Das Mädchen trug Perlenohrringe, die so groß wie Murmeln waren. Viel zu kostbar für ein Geschöpf ihres Alters.«Alle nennen mich Tintoretto, das Färberlein», erklärte ich ihr. Marietta lachte laut los. Sie hatte noch
nie von mir gehört. Ob jemand auf der ganzen Welt berühmt war oder nicht, interessierte Kinder so wenig wie das Wetter.«Das ist doch kein Nachname», rief sie.«Du bist keine bedeutende Person! Mit dir darf ich nicht sprechen!»
    Ehe sie sich umdrehen und weglaufen konnte, bekam ich sie an einem Zipfel zu fassen, doch sie unternahm keine Anstalten, sich loszureißen. Sie trug ein schwarzes Lederbändchen mit einem Chalzedonanhänger. Der Chalzedon hilft, Begierden zu zügeln, und vertreibt trübselige Gedanken und Ideen. Seltsamerweise sah ihr Anhänger genauso wie meiner aus. Obwohl ich zu keiner Zeit an die Kraft der Steine geglaubt habe, lege ich diesen Anhänger nie ab, selbst wenn ich schlafen gehe.«Du solltest nicht so allein herumlaufen, Fünkchen», ermahnte ich sie. Da ihre Söckchen bis zu den Knöcheln heruntergerutscht waren, zog ich sie wieder hoch. Über Jahre hinweg habe ich diesen Bewegungsablauf Tag für Tag ausgeführt. Meine Hände erinnerten sich noch gut an ihn, aus meinem Gedächtnis ist er dagegen verschwunden. Schmale Kinderfesseln, mit Kreidestaub verschmierte Waden, nach Orangenwasser duftende Haut.«Aber ich bin gar nicht allein!», entgegnete sie.«Mein Bruder kommt zum Unterricht hierher, und Mama ist den Prior bezahlen gegangen. Wo ist eigentlich dein Kind?»Sie schaute sich fragend um. Doch da war niemand. Selbst der Laienbruder mit seinem Besen war gegangen.«Ich hab sie verloren», antwortete ich.
    «Sollen wir sie suchen?», schlug sie reumütig vor. Mein betrübter Anblick machte ihr Sorgen. Kleine Kinder ertragen es nicht, uns leiden zu sehen. Da sie mir tatsächlich helfen wollte, ließ ich mich von ihr an die Hand nehmen. Sie zog mich durch das Kirchenschiff, vor jede einzelne Kapelle, lugte in jede Nische, jeden dunklen Spalt. Alle Türen, die sich öffnen ließen, sperrte sie weit auf. Als würde sich meine Marietta tatsächlich in der Sakristei versteckt halten. Nachdem wir einmal durch die ganze Kirche gelaufen waren, blieb ich vor der großen Orgel stehen. Die Flügel,
die ich Jahre zuvor mit einem Gemälde versehen hatte, waren geschlossen. Eine schmale, blonde Person stieg eine steile Treppe zu einem Tempel hinauf. Ihr helles Gewand - voll goldener Staubtupfer - glänzte im Halbdunkel. Ich deutete mit dem Zeigefinger auf sie und sagte:«Meine Marietta».
    Erstaunt war die andere Marietta einen Schritt zurückgewichen. Doch sie glaubte mir, Kinder vertrauen dem gesprochenen Wort.«Bist du ein Zauberer, der Menschen in Farben verwandelt? », wollte sie ernsthaft wissen, als hätte ich ihr erzählt, ich wäre Tischler oder Schiffskapitän.«Ja, auch.»«Oh», raunte sie voller Bewunderung.«Und warum tust du das?»«Weiß ich nicht, mein Funke», antwortete ich ihr,«vielleicht weil ich sie immer in meiner Nähe haben möchte.»Doch schon hatte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie ließ meine Hand los und hockte sich hin. Auf dem Boden unter ihren Schühchen hatte sie eine Marmorplatte entdeckt. Vorsichtig pustete sie die dicke Staubschicht von der Inschrift. Sie zu entziffern gelang ihr jedoch nicht. Möglicherweise konnte sie nicht lesen.«Marietta!», rief eine Frauenstimme.«Marietta!»Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck. Wie gebannt starrte sie auf die strahlend weiße Platte unter sich. Es war ein Grabstein. Der Kirchenboden ist übersät mit Grabsteinen. Unter unseren Füßen lagen Tausende von Toten.
    Marietta aber beachtete den Tod einfach nicht: Sie lachte und polierte mit ihrer Schuhspitze die Platte. Ein Wappenrelief kam zum Vorschein - ein Bischof mit einer Mitra. Das Familienwappen meiner Frau.«Marietta!», rief die Stimme, diesmal erzürnt und viel näher. Erst trat ein fettleibiger kleiner Junge neben mich, dann eine Frau in einem malvenfarbenen Umhang. Im Arm hielt sie ein kleines Kind, das auf ihrer Schulter eingeschlafen war. Ich hatte sie kein einziges Mal mehr wiedergesehen, allerdings hätte ich sie ohnehin nicht wiedererkannt. Aber diesen Umhang habe ich einst anfertigen lassen. In der Hand hielt sie einen Fächer aus Federn, die in allen Regenbogenfarben schillerten, ihre Ohrläppchen
zierten zwei
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