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Der Ring des Sarazenen

Der Ring des Sarazenen

Titel: Der Ring des Sarazenen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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1. K APIT E L
     
    Robins Welt war größer geworden. Hatte sie früher, ausgehend von dem Dorf, in dem sie geboren war und die ersten anderthalb Jahre ihres Lebens verbracht hatte, einen guten Tagesmarsch in jede Richtung gemessen, so gab es nun buchstäblich keine Grenzen mehr. Einst war ihr das winzige Dorf, in dem sie aufgewachsen war und dessen Einwohnerzahl der Hundert niemals auch nur nahe kam, geradezu gigantisch vorgekommen, nun kannte sie Städte, deren Bewohner nach Tausenden zählten, wenn nicht nach Zehntausenden. Vor noch nicht einmal allzu langer Zeit waren ihr die flachen Hügel, die ihr Universum an zwei Seiten begrenzten, unüberwindbar erschienen. Doch mittlerweile hatte sie Berge gesehen, die selbst für tollkühne Kletterer unübersteigbar waren und deren Flanken in den Wolken verschwanden, lange bevor sie den halben Weg zum Gipfel erreichten.
    Ihr war entsetzlich übel.
    Vielleicht war übel auch das falsche Wort. Möglicherweise sollte sie einen neuen Begriff für den Zustand erfinden, in dem sie sich befand. Ihre Welt war ganz sicher größer geworden, und sie hatte Dinge gesehen, von denen das einfache Bauernmädchen, das sie noch vor weniger als zwei Jahren gewesen war, noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Aber sie hatte auch eine neue Dimension des Leidens kennen gelernt, und auch diese - unwillkommene - Entdeckungsreise in eine unbekannte neue Welt war noch lange nicht zu Ende.
    Robin seufzte tief, fuhr sich mit zitternden Fingern über das Gesicht und durch das kurz geschnittene dunkelblonde Haar - sie nannte es dunkelblond, Salim bezeichnete den Ton, zumindest wenn sie alleine waren, als pferdeäpfelfarben. Sie wusste, dass er das nur tat, um sie zu necken, trotzdem ärgerte sie sich jedes Mal aufs Neue. Und was das Schlimmste war - der Vergleich passte auch noch. Verdammter Sarazene!
    Robin ließ den Blick durch das winzige hölzerne Geviert schweifen, das seit einer Woche ihr Zuhause, aber auch ihr Gefängnis war. Ihre W e l t mochte ja größer geworden sein, aber die Kammer war winzig und so schäbig, dass sie selbst einem Vergleich mit der ärmlichen Hütte nicht Stand gehalten hätte, in der sie aufgewachsen war.
    Die Wände waren feucht und mit dunklen Stockflecken übersät. Die Decke der Kabine war so niedrig, dass selbst Salim, der gewiss kein Riese war, nicht aufrecht stehen konnte, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Das winzige Fenster zeigte ein Bleiglasbild des heiligen Christophorus von der Art, wie man sie in wohlhabenden Kirchen findet. Glas war geradezu verschwenderisch - verglichen mit dem üblichen geölten Pergamentpapier, das dem Wind und der Kälte eher symbolischen Widerstand entgegensetzte. Der Anblick des Heiligen, der Reisenden sicher über Ströme hinweghalf, hatte nichts Tröstendes für Robin. Das hier war kein Fluss!
    Das bunte Glas ließ das Licht in ungleichmäßigen, flirrenden Streifen in die Kammer fallen, und es reichte kaum aus, um auch nur bis zur Türe zu sehen. Doch was brauchte sie Licht in diesem Gefängnis! Selbst wenn sie die Augen schloss, sah sie noch immer vor ihrem inneren Auge, wie sich der Boden nicht nur in einem Rhythmus hob und senkte, dass es ihr den Magen umdrehte, sondern sich auch bog, verdrehte und verzerrte… Und noch dazu in Richtungen, die es gar nicht gab!
    Sie hätte diese Aufzählung vermutlich nach Belieben fortsetzen können. Robin war niemals wehleidig gewesen, aber mit dieser Reise war die Grenze ihrer Leidensfähigkeit endgültig überschritten.
    Wie um sie zu verhöhnen, bewegte sich in diesem Moment der Boden und damit auch ihre Lagerstatt aus mit Stroh gefüllten Leinensäcken, auf der sie lag - ein gutes Stück nach unten und sogleich ruckartig wieder nach oben. Das war eindeutig zu viel für ihren Magen. Würgend beugte Robin sich vor in Richtung des henkellosen Eimers, den Salim für Gelegenheiten wie diese neben ihrem »Bett« abgestellt hatte. In den zurückliegenden Tagen hatte sie ihn oft und ausgiebig benutzt, aber jetzt kam nicht einmal mehr bittere Galle über ihre Lippen, nur noch ein gequältes, trockenes Würgen. Es war fünf Tage her, dass sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, und die wenigen Schlucke Wasser, die Salim sie regelmäßig zu trinken zwang, schien ihr Körper fast schneller auszuschwitzen, als sie sie herunterschlucken konnte.
    Robin blieb zitternd und nach vorne gebeugt so lange sitzen, bis sich ihr aufbegehrender Magen wieder halbwegs beruhigt hatte. Dann stemmte sie sich hoch
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