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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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gähnte sie.
    Auch Jonas musste ein Gähnen unterdrücken. Warum war er nur so müde? Er war doch gerade erst aufgestanden?! Plötzlich kam
     ihm etwas in den Sinn, das er schon gestern Nacht hatte fragen wollen: »Tante |263| Tiger, wissen Sie, wie die Seele aussieht? Sie müssen sie doch gesehen haben?«
    Der Tiger schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wahrscheinlich ist sie unsichtbar. Ich stelle sie mir aber vor wie ein sehr
     fein gewebtes Taschentuch, das mit kunstvollen Mustern bestickt ist. Und wenn man gestorben ist, trägt der Wind das Taschentuch
     davon, und durch die Bewegungen werden die Stickereien zu einem Lächeln, dem schönsten Lächeln des Verstorbenen. Man könnte
     also sagen: Die Seele sieht aus wie ein Lächeln.« Tante Tiger erhob sich und trottete zu Ulla hinüber. Ihr Gang war weich
     und geschmeidig, die Schwanzspitze schwang gleichmäßig im Rhythmus ihrer Schritte hin und her. Sie bewegte sich inzwischen
     mit der aufreizenden Lässigkeit eines großen Raubtieres. Kein Zweifel, sie hatte sich verändert.
    »Ich bin auch müde«, sagte Lippe neben Jonas. »Lass uns in den Schatten gehen. Wir können ja Funakis vorher noch die Nase
     zuhalten, vielleicht wacht er auf.«
    »Gute Idee«, sagte Jonas und wunderte sich über sich selbst. Ohne Nachzudenken ließ er sich auf Lippes Ideen ein, fand sie
     sogar gut – das konnte, nein, das musste schiefgehen.
     
    Wie eine Landschaft lag Funakis auf dem Sofa vor ihnen. Die höchste Erhebung waren die beiden ineinander verschränkten Hände,
     die auf dem riesigen Bauch lagen, über den sich die blaue Latzhose spannte. |264| Der zugewucherte Kopf, aus dem die Nase wie ein einsamer nackter Fels ragte, war der wildeste Teil dieser Landschaft.
    »Greif zu«, flüsterte Lippe und deutete auf die Nasenspitze.
    Jonas zögerte. Wer weiß, was Funakis tun würde? Wenn er wollte, könnte er Jonas und Lippe gleichzeitig, jeden mit einer Hand,
     über den ganzen Platz in eines der Belebungsbecken schleudern.
    »Herr Funakis«, rief Jonas gedämpft.
    Nichts geschah.
    »Herr Funakis!« Jonas schrie lauter.
    Nichts regte sich, nur die Hände auf dem Bauch hoben und senkten sich gleichmäßig.
    »Die Nase, Nase.« Lippe grinste.
    »Feigling«, flüsterte Jonas und drückte die beiden riesigen Nasenflügel mit Daumen und Zeigefinger zusammen.
    Es gab einen Ruck und ein leichtes Beben erschütterte die Landschaft, dann klappte der Mund auf und ein so lautes Knarzen,
     Ächzen und Sägen erfüllte die Luft, dass das Sofa wackelte. Gleichzeitig wurde Jonas von einer Schwade Alkoholdampf eingehüllt.
     Der Geruch war so stark und scharf, dass Jonas schwindelig wurde. Er ließ die Nase los. Der Mund klappte wieder zu und das
     Schnarchen war vorbei.
    »Du hast recht«, flüsterte Jonas. »Den kann man nicht wecken.« Im Sonnenlicht sah Jonas, wie dreckig die Latzhose war und
     wie verfilzt der zottelige Bart und die dicken Locken. Das Wesen auf dem Sofa erinnerte |265| Jonas überhaupt nicht mehr an einen Gott. »Ein Tier«, murmelte er.
    »Ein Schaf«, sagte Lippe. »Wie der Hammel meiner Oma in Russland: dünne Beine, dicker Bauch und überall Wolle.«
    »Glaubst du, er ist gefährlich?«, fragte Jonas, als sie sich neben Tante Tiger und Ulla in den Schatten setzten und an die
     kühle Mauer lehnten.
    »Weiß nicht«, sagte Lippe und gähnte. »Meine Oma sagt immer: ›Behalt den Hammel im Auge, dann macht er keine Zicken.‹«
    Jonas beobachtete Funakis. Die Luft flimmerte und die Müdigkeit lag auf ihm wie eine schwere Decke, die er nicht abwerfen
     konnte. Was war nur mit ihm los? War das die Hitze? Und was war mit den anderen? »Hey Lippe«, murmelte er.
    Aber Lippe war schon in den Farn gesunken. Ulla saß an die Wand gelehnt auf seinem Schlitten, die Hände mit dem Flechtwerk
     lagen ruhig in seinem Schoß, der Kopf lag auf der Brust. Das Gesicht wurde von der Hutkrempe verdeckt, sodass Jonas die Augen
     nicht sehen konnte, er war sich aber sicher, dass auch Ulla schlief. Igor und Vera hatten sich in das hinterste Eck des Platzes
     verzogen. Sie saßen aneinandergelehnt auf dem Boden und schliefen. Um sich hatten sie eine Art Barrikade aus Bürostühlen errichtet.
     Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte Jonas gelächelt. Funakis schlief sowieso. War er, Jonas, der Einzige, der … Etwas
     Haariges klatschte gegen seine Wange und ließ ihn die Augen aufschlagen. Tante |266| Tigers Schwanz. Tief geduckt stand sie mit zuckendem Schweif im prallen
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