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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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Sonnenschein. Der vorgereckte Kopf pendelte hin und
     her. Die Spannung, die von ihr ausging, war so groß, dass es Jonas trotz seiner bleischweren Lider gelang, die Augen offen
     zu halten.
    Noch immer tief geduckt, kroch Tante Tiger hinter Funakis’ Sofa, kauerte dort eine Weile, schlich sich dann in den Schatten
     des Rechengebäudes, wurde selbst fast zu einem Schatten und glitt die Wand entlang. Jonas konnte ihr kaum mit den Augen folgen,
     so sehr kämpfte er gegen die Müdigkeit. Mit allergrößter Anstrengung gelang es ihm, den Kopf zu wenden, um zu sehen, an was
     sich Tante Tiger heranpirschte.
    Er sah den geteerten Weg, der zwischen den vier Becken verlief. Die beiden großen Becken glänzten dunkelbraun in der Sonne,
     die beiden kleineren dahinter strahlten grell wie zwei kreisrunde Spiegel. Jonas musste die Augen zusammenkneifen.
    Und dann sah er sie.
    Eine Gestalt stand zwischen den gleißenden Becken. Krumm und gebückt. Sie machte ein paar Schritte auf dem geteerten Weg in
     Richtung Rechengebäude. Jonas erkannte den eigenartig steifen und trotzdem schleichenden Gang. Das Gesicht war unter dem wirr
     aufstehenden Haargestrüpp kaum zu sehen, aber Jonas meinte ein paar wild funkelnde Augen zu erkennen. Ein Arm hing weit herunter,
     wurde immer wieder aufgestützt, fast wie ein drittes Bein. Der andere Arm war vor die Brust gezogen und umklammerte |267| etwas Weißes. Die Gabel. In diesem Moment spürte Jonas, dass die Striemen auf seiner Wange noch immer brannten.
    Vor Müdigkeit konnte er kaum noch denken, mit allerletzter Kraft hielt er die Augen offen. Tante Tiger stand jetzt ebenfalls
     auf dem Teerweg. Langsam bewegten sich beide aufeinander zu. Das weiße Bauchfell des Tigers schleifte über den Teer, so tief
     geduckt schob er sich vorwärts. Die Alte setzte vorsichtig Schritt vor Schritt, ihr zahnloser Mund stand offen. Jetzt blieben
     beide stehen. Kein Laut war zu hören bis auf das Sirren und Zischen der Bläschen in den Belebungsbecken, das plötzlich abbrach.
     Es herrschte vollkommene Stille.
    Unter größter Mühe gelingt es Jonas, einen Blick auf seine Uhr zu werfen: genau zwölf Uhr mittags. Jonas schafft es nicht
     mehr, den Kopf zu heben. Aus den Augenwinkeln nimmt er wahr, wie Tante Tiger sich zusammenkauert, die Ohren eng an den Kopf
     gelegt, die Schwanzspitze peitscht wild nach links und rechts. Jonas will schreien, aber er ist wie gelähmt. Er sieht den
     Absprung, den lang gestreckten gestreiften Leib wie einen orange-schwarzen Pinselstrich, die ausgefahrenen Krallen, die in
     der Sonne blitzten … Das Letzte ist das flatternde Ende des rosa Schals, dann fallen ihm endgültig die Augen zu.
     
    Jonas träumt.
    Es ist dunkel. Er fühlt sich geborgen. Ihn stört nur, dass er nichts sehen kann, obwohl seine Augen offen |268| sind. Er tastet vorsichtig mit der linken Hand neben sich und spürt ein Fell. Jonas ertastet einen kurzen Schwanz, eine feuchte
     Schnauze und ein weiches Hängeohr. Er starrt in die Dunkelheit, sieht aber nichts als schwarze Schwärze. Jonas tastet nach
     rechts. Seine Hand berührt Stoff. Etwas Gestricktes, darunter eine magere Schulter. Ein Mensch. Genau wie das Tier auf seiner
     linken Seite fühlt sich der Mensch lebendig an. Jonas tastet den Arm entlang, bis er das Handgelenk und eine zierliche knochige
     Hand spürt, die zu einer Faust geballt ist. Jonas betastet die Faust. Sie hält etwas umklammert, einen schmalen Stiel aus
     Plastik, der sich plötzlich verbreitert und in drei spitzen Zinken endet. Eine Gabel! Jonas fährt hoch und stößt mit dem Kopf
     gegen eine weiche feuchte Wand. Auch der Untergrund, auf dem er sitzt, ist weich und fleischig, mit seinen nackten Füßen fühlt
     Jonas, wie glitschig der Boden ist … Plötzlich weiß er, wo er ist: in einem Magen. Neben ihm liegen die alte Rosa und ihr
     Hund Herr Teichmann! Ein fürchterliches Gefühl breitet sich in Jonas aus. Panik. Er will raus, nur weg hier, raus! Fliehen!
     Aber das Schlimmste ist die völlige Finsternis. Jonas wird fast schlecht vor Angst. Er schlägt und tritt um sich. Dabei stößt
     er mit seinen Füßen an ein anderes Paar nackte Füße. Diesmal weiß Jonas sofort, wer das ist: Vera. Wahrscheinlich liegen sie
     alle hier: Lippe, Ulla, Igor … In das Gefühl der Angst mischt sich jetzt noch eine ungeheure Traurigkeit: Sie sind alle tot,
     aufgefressen. Er greift nach der Schulter auf seiner rechten |269| Seite und schüttelt sie. »Warum haben Sie das gemacht?
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